Das PR-Interview Frisch gepresst: Sönke Iwersen "In der Regel wird gemauert, gelogen, bestritten – oder angegriffen und gedroht."

Wenn Sönke Iwersen vom "Handelsblatt" anruft, ist das selten eine gute Nachricht für Unternehmen. Der Leiter des Investigativ-Ressorts und sein Team haben bereits Skandale rund um Wirecard, Cum-Ex oder die Tesla-Files aufgedeckt. Und wurden dafür vielfach ausgezeichnet – sogar mit dem Kurt Tucholsky Preis für Literarische Publizistik. Im aktuellen Beitrag der "Frisch gepresst"-Reihe mit Nils Wigger geht es um die neue Rolle der Pressestellen, über die Rolle von KI in der Recherche, über Aktenordner unterm Weihnachtsbaum und – natürlich – auch über Tupac.

PR-Journal: Herr Iwersen, ich frag mal ganz direkt und rhetorisch: Muss man sich als Kommunikator Sorgen machen, wenn Sie anrufen? Oder greifen Sie gar nicht selbst zum Hörer und schicken erstmal das Team vor?

Sönke Iwersen: Also, es gibt viele Leute, mit denen man schon seit fünf oder zehn Jahren in Kontakt ist. Wenn Sie mit jemandem über Wirecard sprechen oder Cum-Ex, dann ist ja klar, dass das jetzt keine Heldengeschichte wird. Manchmal lassen wir aber auch erstmal Volontäre anrufen – insbesondere wenn wir der Meinung sind, wir brauchen noch ein paar ganz normale Informationen, die sie vielleicht gar nicht rausgeben, wenn sich gleich das Investigativteam meldet. So haben wir das z. B. bei einer Recherche zum Private Equity Investor Triton gemacht vor einem Jahr. Die haben das aber trotzdem gerochen, waren unglaublich vorsichtig und haben sogar gleich den stellvertretenden Chefredakteur angerufen und gefragt, was das für eine Recherche ist. Gerade in Konzernen spürt man eine Grundvorsicht: Jede Information kann am Ende zum Baustein einer Geschichte werden, deshalb wird selbst bei vermeintlich „neutralen“ Fakten plötzlich sehr knapp geantwortet. Klassisch war es bei Tesla: auf 65 Fragen gab es eine Antwort: Da dürfen Sie gar nichts schreiben, das ist verboten. Und wenn doch, dann passiert was. Inhaltlich kam Null.

PR-Journal: Sie leiten das Investigativ-Ressort beim Handelsblatt und haben es aufgebaut. Wie kamen Sie dazu?

Iwersen: Das war 2011. Ich hatte gerade die Ergo-Geschichte aufgedeckt - das war damals die Sache mit der Sexreise nach Budapest. Es folgten eine ganze Serie weiterer Artikel. Ein dediziertes Investigativ-Ressort gab es seinerzeit beim Handelsblatt nicht. Gabor Steingart hat mich dann gefragt, ob wir nicht auch eines aufbauen wollen - viele andere hatten das bereits. So entstand schrittweise auch bei uns ein Team und wuchs zeitweise auf sieben Kolleginnen und Kollegen. Das klingt nicht viel, aber es ist schließlich auch eine Spezialisierung, die man nicht „mal eben“ nachbesetzt.

PR-Journal: Und wie kamen Sie zum Journalismus?

Iwersen: Über den Sport. Eigentlich wusste ich nicht genau, was ich machen wollte, musste aber meine Miete bezahlen. Über einen Bekannten, der Sportjournalist war, habe ich angefangen, für eine Basketball-Zeitung zu schreiben – ich bin großer NBA-Fan – und dann habe ich beim “Hamburger Abendblatt” auch über den lokalen Basketballclub berichtet, der damals im Aufschwung war. Weil ich ein Jahr in den USA gelebt hatte und Rap-Fan war – das war die Zeit von Tupac Shakur, Dr. Dre, Snoop Dogg und The Notorious B.I.G – habe ich mich gut mit den amerikanischen Spielern verstanden, die in fast jedem deutschen Team Standard waren. Viele Journalisten hatten Verständigungsprobleme; ich nicht. So erfuhr ich irgendwann, dass die Mannschaft teilweise seit Monaten kein Gehalt bekommen hatte. 

PR-Journal: Ihre erste Investigativ-Geschichte?

Iwersen: Ja! Ein Spieler erzählte mir, dass sie am letzten Wochenende nur angetreten seien, weil der Geschäftsführer kurz vor Spielbeginn mit Umschlägen voller Bargeld kam. Als ich die Geschichte veröffentlichte, meldete sich das Finanzamt beim Verein. Wie wurden diese Zahlungen eigentlich verbucht? Was ich damit sagen will: Für solche Enthüllungen braucht es nicht zwingend ein Investigativ-Ressort. Auch ein Sportjournalist kann über eine Story stolpern, die investigativ wird, wenn er sie einfach aufschreibt.

PR-Journal: Was macht investigativen Journalismus für Sie aus?

Iwersen: Ich habe eigentlich nie einen Unterschied zwischen „normalem“ und „investigativem“ Journalismus gemacht. Wenn man als Journalist arbeitet, dann kommt man irgendwann an eine Geschichte, die so ein bisschen Blaulicht oder Rotlicht hat. Und wenn man dann weitermacht, beginnt schon der Investigativjournalismus.

PR-Journal: Woher kommt Ihr regelmäßiger Input – Eigenrecherche, Redaktion, externe Impulse? Und haben sich Whistleblower-Zugänge verändert?

Iwersen: Der erste Impuls ist oft tatsächlich aus heiterem Himmel. So war’s bei Ergo. Ich hatte vorher noch nie über Ergo geschrieben. Jemand mit belastbaren Informationen suchte ein Ohr, das lang genug zuhört. Bei Tesla war’s wieder anders. Da hat der Whistleblower zuerst bei meinem Kollegen in Japan angerufen. Der sprang wirklich quer über den Globus von einem Journalisten zum anderen, um jemanden zu finden, der ihm zuhört. Und es war eine Menge Arbeit, um daraus eine Story zu machen.

Dann gibt’s natürlich Fälle wie Dieselgate. Da meldete die US-Umweltbehörde Milliardenstrafe gegen VW. Da war kein Journalismus im Spiel – das waren amerikanische Studenten, die den Schmu mit dem angeblichen Clean Diesel aufdeckten.

Und dann gibt’s das, was wir beim “Handelsblatt” „scoop by thinking“ nennen. Ein Beispiel: Verena Bahlsen stand auf einer Bühne, sagte, es sei „so geil, reich zu sein“, und wie stolz sie auf die Familie war. Dann kam die Frage nach Nazi-Vergangenheit und Zwangsarbeitern im Unternehmen. Ihre Antwort zeigte, dass sie das Thema völlig falsch einschätzte. Wir saßen in der Redaktion und dachten: Wie kann es sein, dass das nicht aufgearbeitet ist? Lasst uns mal nach ähnlichen Fällen suchen. Nun haben viele Unternehmensdarstellungen zwischen 1914 und 1950 Lücken. So richtig eine Smoking Gun haben wir aber nicht gefunden. Bis eine Kollegin einen Tipp bekam: Schaut euch doch mal Roland Berger an, der erzählt immer wieder, sein Vater sei Widerstandskämpfer gewesen. Das sei aber anders gewesen. Dann haben wir geprüft: Was hat Berger über seinen Vater gesagt? Er sagte viel, aber da passte vieles nicht: falsche Daten, falsche Einordnungen. Wir haben uns dann Bergers Nazi-Akte besorgt, die konnte man einfach anfordern. Darin stand: früher Eintritt in die NSDAP, Finanzchef der HJ, später Firmenführer. Mit unterschriebenem Lebenslauf. Nichts deutete auf Widerstand hin. Und dann die Firma, in der Bergers Vater Generaldirektor wurde. Die gehörte zwei jüdischen Brüdern, die enteignet wurden. Die Villa eines alten jüdischen Ehepaars wurde beschlagnahmt – dort zog die Familie Berger ein. Das mussten wir alles nur zusammenpuzzeln und es wurde eine Geschichte, die um die Welt ging. 

PR-Journal: Was macht „Die Tesla Files“ gegenüber Cum‑Ex, Diesel oder Wirecard besonders – auch für die Öffentlichkeit?

Iwersen: Die Dimension und der Zeitpunkt. Innerhalb von Minuten nach dem ersten Kontakt mit dem Whistleblower lagen plötzlich globale Personaldaten vor. Gigabyte, mit hochsensiblen Informationen. Also wirklich alles: private Adressen, Telefonnummern, teilweise medizinische Hinweise, Gehälter – in den USA sogar Sozialversicherungsnummern, was ja sofort das Risiko von Identitätsdiebstahl erhöht. Und das kam genau in einer Phase, in der generative KI gerade Mainstream wurde. Daten ließen sich in Sekunden vervielfältigen, und dadurch wurde das Risiko potentieller Fälschungen noch einmal viel größer. Es ging um das damals wertvollste Autounternehmen der Welt – größer als alle anderen Hersteller zusammen. Das heißt, unsere Prüfpflicht war maximal. Wir haben Wochen damit verbracht, nicht Bestätigungen zu suchen, sondern Falsifikationen. Also: Wo stimmt es vielleicht nicht, wo könnte etwas gefälscht sein? Wir haben innerer Plausibilitäten geprüft, interne und externe rechtliche Checks gemacht – alles, bevor überhaupt nur eine Zeile in den Druck durfte.

PR-Journal: “In der Regel wird gemauert, gelogen, bestritten – oder angegriffen und gedroht.“Im Buch erwähnen Sie den Brief von Teslas Hausjurist Joseph Alm, der die Löschung der Daten forderte. War das klassisches Unterlassungsjuristen‑Deutsch oder Einschüchterung? Wie gehen Sie mit solchem Druck um?

Iwersen: Die Kernerzählung war: gestohlene Daten, ein unzufriedener Ex-Mitarbeiter, und Berichte auf dieser Basis würden rechtliche Schritte nach sich ziehen. Wir sollten den Umfang bestätigen, alles zurücksenden und löschen. Bemerkenswert war aber eher, was fehlte. Es gab keinen substantiellen Widerspruch zur Echtheit der Daten. Und es war auch ein seltsam kurzer Brief. Um mal eine Größenordnung solcher juristischen Drohszenarien zu geben: Bei unserer Triton-Recherche kamen im Vorfeld rund zwei Dutzend Schreiben von elf Kanzleien. Im Management-Umfeld waren sogar 27 Anwälte aus 13 Kanzleien involviert. Das zeigt, wie hoch Unternehmen den Einsatz rechtlicher Abschreckung ansetzen.

Beim Tesla-Whistleblower Krupski gab es eine Hausdurchsuchung sechs Tage nach Veröffentlichung. Was fühlt man in solchen Momenten?
Das ist so ein bisschen die Schizophrenie des Berufs: Einerseits kannte ich den Mann seit einem halben Jahr, wir hatten tausende Nachrichten ausgetauscht – Empathie ist da logisch. Andererseits setzt sofort der professionelle Reflex ein: Kann ich schreiben, dass er durchsucht wurde? Da reicht mir ein Telefonat nicht. Also fragte ich: “Hat man Dir etwas Schriftliches gegeben?” Eine Minute später hatte ich den norwegischen Durchsuchungsbefehl auf meinem Telefon. Und bei allem Mitgefühl für die Quelle - da frohlockt das Reporterherz, das lässt sich nicht abstreiten. Am besten lässt sich das wohl mit dem französischen “Deformation professionnelle” beschreiben: Anteilnahme und Handwerk laufen parallel. Zum Handwerk gehört natürlich auch: Man muss der Quelle klarmachen, was passieren kann. In diesem Fall sagte der Informant: Ich weiß, dass Tesla mich finden wird, wenn ihr druckt. Aber ich will, dass ihr druckt.

PR-Journal: Hat Tesla versucht, Ihre Recherche als „Fake News“ zu framen? Wurde die Fraunhofer-Verifikation angezweifelt? Gab es koordinierte Angriffe?

Iwersen: Elon Musk erreicht auf X mehr Menschen als das Handelsblatt, die New York Times, das Wall Street Journal, BBC und Bild-Zeitung zusammen. Das ist ein riesiges Megafon, aber wir bekamen nicht eine einzige negative Reaktion von ihm. Als wir unsere Stories auf X gepostet haben, war die Reichweite auffallend gering – das wirkte wie Shadowbanning. Wir haben das nicht untersucht, aber es fühlte sich so an. Außerdem schossen einzelne, ultrarechte Influencer scharf. Koordinierte Angriffe aus dem Musk‑Umfeld haben wir aber nicht erlebt, eher wüste Kommentare unter Artikeln oder Sendungsmitschnitten.

PR-Journal: Vor dem Hintergrund von all dem: Können Sie Pressestellen noch etwas Positives abgewinnen?

Iwersen: Es kommt selten vor, aber es gibt auch positive Geschichten: Nach der Ergo-Geschichte meldete sich jemand von einer anderen Versicherung bei mir. Auch dort wurde ein Ausflug gemacht, diesmal Brasilien. Der Bus fuhr zu einem Bordell und der Gruppenleiter sagte sinngemäß: „Die echten Männer steigen jetzt aus und kommen mit mir, die anderen bleiben hier und trinken Caipirinha.” In diesem Fall hat die Kommunikationsabteilung nach der ersten Konfrontation nicht abgeblockt, sondern eine interne Untersuchung angestoßen und transparent gemacht, wie sie vorgeht. Man hat wirklich alle Teilnehmenden befragt, die Abläufe offengelegt und ist sogar persönlich in die Redaktion gekommen, um Einblick in den Stand der Aufklärung zu geben. Als dann zusätzliche Belege vorgelegt wurden, hat das Unternehmen nicht auf formalen Positionen bestanden, sondern die Befragungen ein zweites Mal – gründlicher – aufgesetzt und in der Konsequenz auch Fehlverhalten eingeräumt. Das war professionell, schnell, lernbereit – und damit vorbildlich. In der Regel wird aber gemauert, gelogen, bestritten – oder angegriffen und gedroht.

PR-Journal: Was wünschen Sie sich von Kommunikator:innen?

Iwersen: Ich bin da ohne Wunsch. Die machen ihren Job, ich meinen. Ich nehme das nicht persönlich. Wenn mich jemand am Telefon beleidigt oder anbrüllt, brülle ich nicht zurück, sondern sage: „Halten Sie mal die Luft an. "Wollen Sie die Fragen jetzt beantworten oder nicht?“ Ich mache das jetzt lang genug. Am Telefon gibt niemand belastbare Antworten. Sobald es ins Detail geht, heißt es: „Schicken Sie die Fragen rüber.“ Die finale Linie geben letztlich Management und Juristen vor, nicht die Kommunikation. Das sieht man den Antworten auch an – sehr lange Sätze, risikoavers, viele Prüfkreise. Für uns bleibt: Wir stellen Fragen, prüfen Antworten, passen Texte an – emotionslos.

PR-Journal: Was ist Ihre Prognose? Wie wird sich investigativer Journalismus in den nächsten Jahren entwickeln?

Iwersen: Der Sprung ist operativ gewaltig: Noch vor drei Jahren sind wir bei Tesla ein Dokument nach dem anderen durchgegangen - alle 23.000, auch über Weihnachten. Heute können wir bei Wirecard 15 oder 150 Gigabyte in ein Programm kippen und Fragen stellen wie: „Wer hat am häufigsten mit Markus Braun telefoniert?“ Dinge, die früher ewig dauerten, gehen jetzt in Minuten – inklusive sprachübergreifender Suchen, Verknüpfungen und Hypothesentests. Heißt: weniger Blindflug, mehr Zeit für die eigentliche Story-Arbeit. Wir arbeiten mit Fakten. Die härtesten Geschichten würden wir nie ohne knallharte Belege drucken - Mails, Chats, interne Dokumente. Es lässt sich heute ja alles so wunderbar leicht kopieren. Darum bleiben wir auch ruhig, wenn jemand klagt: Wir stützen uns ja auf deren eigene Unterlagen. Wir können jetzt in Monaten schaffen, was früher Jahre dauerte. Das bedeutet: mehr Geschichten, mehr Aufklärung, mehr Transparenz.

Über den Autor: Nils Wigger ist Geschäftsführer von Neo Relations. Die Kommunikationsberatung unterstützt Technologieführer und Investoren bei Stakeholder Relations, C-Level-Kommunikation und strategischem Storytelling. Wigger hat über 10 Jahre Erfahrung in der Technologiekommunikation, u.a. bei Unternehmen wie WAGO, dem Luftfahrtverband BDL, Brose und getpress.

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