Macht der Bilder Rückschau 2022: Die Bilder zur Zeitenwende
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- von Jost Listemann, Berlin
2022 ist das Jahr der Visualität: Storytelling ohne Bilder funktioniert nicht mehr. Die „Zeitenwende" produziert viele Bilder, aber welche wir aus dem Jahr 2022 mitnehmen werden, ist noch nicht entschieden. In der Erinnerung vermischen sich oft historische Motive mit persönlichen Gefühlen, denn Bilder erzählen immer zwei Geschichten – die, die wir sehen und die, die wir im Herzen tragen. Die Mauer im dunklen Berliner November, die Zwillingstürme im blauen Morgenlicht – welche Bilder werden wir mit dem Jahr 2022 verbinden? Nachfolgend einige Vorschläge.
Das Selfie-Video
Die Geschichte von David gegen Goliath erzählte Wolodimyr Zelensky auf allen Kanälen mit seinen Videobotschaften, Propaganda-Filmen und Social-Media-Posts. Den Auftakt machte ein verwackeltes Video aus dem nächtlichen Kiew: auf kurze Distanz, eng beieinanderstehend, stellt Zelensky sich und seine wichtigsten Mitstreiter vor die Handykamera. Im fahlen Nachtlicht sind der Präsidentenpalast und die goldenen Kuppeln einer orthodoxen Kirche zu erkennen. Die Botschaft des verwackelten Videos ist unmissverständlich: Hier stehen wir und leisten Widerstand gegen einen übermächtigen Feind, koste es, was es wolle! Mit dem Slogan „Ich brauche keine Mitfahrgelegenheit, ich brauche Munition“ hatte er den verbissenen Abwehrkampf der Ukrainer eröffnet, seitdem ergießt sich eine tägliche Flut von Bildern und Botschaften ins Netz. Seit dem 24. Februar ist kaum ein Tag vergangen, an dem wir nicht ein Bild des Mannes aus Kiew gesehen haben – entschlossen, zornig, Unterstützung fordernd. Zelensky weiß: Ohne die militärischen Ressourcen der westlichen Staaten und der Leidensfähigkeit der europäischen Gesellschaften wird der ukrainische Abwehrkampf wahrscheinlich verloren gehen. Deshalb ist aus dem TV-Komiker ein Social-Media-Krieger geworden.
Das Leck
Wir wissen bis heute nicht sicher, wer es war. Aber das Bild der gesprengten Nordstream-Pipeline wird zum sichtbaren Symbol für eine bis dahin unsichtbare Bedrohung durch den Ukraine-Krieg: nicht nur in Kiew schlagen Raketen in Kraftwerken ein, auch unsere Infrastruktur ist angreifbar. Wer die Sprengladung platzierte, zielte auf die Verunsicherung der Bevölkerung, besonders in Deutschland. Kurze Zeit nach der Sprengung in der Ostsee sorgt eine Störung im Funknetz der Bahn für flächendeckende Zugausfälle in Norddeutschland: Auch hier sind Täter und Motive ungeklärt und doch stieg die Nervosität. Mancher wird sich in diesem Moment heimlich gefragt haben, ob man nicht doch verhandeln solle, bevor bei uns Millionen frieren und arbeitslos werden? Manchmal bedarf es eben nur eines Bildes, um die Widerstandsfähigkeit ganzer Gesellschaften zu testen.
Der Sarg
Es ist die Geschichte eines angekündigten Todes und die Welt wartet gespannt auf die Show: Königin Elisabeth II. erhält ein mediales Totenritual, dass in seiner Opulenz und Perfektion alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt. Die Mediatheken und Streamingdienste quellen über von vorproduzierten Rührstücken über das Leben der „Queen“. Endlose Live-Sendungen berichten von kilometerlangen Warteschlangen und Gedränge in Londons Innenstadt. Die Windsors zelebrieren das Begräbnis als ein mediales Mega-Event des 21. Jahrhunderts: der Sarg der Queen mit Fahne und Krone wird von der BBC minutiös auf seinem Weg durch Schlösser, Straßen, Kirchen, Kapellen und Triumphbögen begleitet. Tagelang wird die tote Königin vor den Kameras hin und her getragen, gefahren, präsentiert – ständig umgeben von Publikum und der „media coverage“ der BBC. Zahlen von 200 bis 300 Millionen Euro Übertragungskosten schwirren durch die europäische Medienszene – wenig überraschend angesichts Dutzender Kameraperspektiven der Live-Übertragung. Am Ende des medialen Overloads wünscht man sich selbst und der Queen endlich Ruhe. But „the show must go“ und Harry und Meghan eröffnen gerade auf Netflix das nächste Kapitel des Windsor-Dramas: „Nasty Harry" gegen den Rest der Familie und die britische Presse – God save the King!
Die Frau
Zuerst ist da das Bild einer jungen Frau, die dunklen Haare halb bedeckt, Augen und Mund leicht geschminkt. Im gleichen Post sehen wir die gleiche Frau verletzt und verkabelt auf der Intensivstation: Im September 2022 stirbt Mahsa Amini an den Folgen der Misshandlungen durch die iranische Religionspolizei.
Eine Nachricht und zwei Bilder werden zum Funken, der zündet. Tausende vor allem junger Frauen protestieren spontan gegen das Regime der Mullahs: der Ruf „Frauen, Leben, Freiheit“ schallt durch die Straßen Teherans und rast weltweit durchs Netz. Frauen auf der ganzen Welt fühlen sich solidarisch, viele Exil-Iraner hoffen auf eine Revolution. Das Jahr 2022 hat endlich ein Bild der Hoffnung: Der Hoffnung auf das Ende eines diktatorischen Regimes, dass vor allem Frauen quält und unterdrückt. Beim ersten Spiel der iranischen Fußballnationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft verweigert die Mannschaft das Singen der Hymne als Zeichen der Solidarität. Das Bild der stumm stehenden Spieler geht um die Welt. Das Regime reagiert mit Repressionen gegen Fans und die Familien der Spieler. Anfang Dezember 2022 wird der 23-jährige Rapper Mohsen Shekari wegen seiner Beteiligung an Protesten in Teheran hingerichtet. Zwölf weitere Protestierer sind zum Tode verurteilt und warten auf ihre Exekution. Das Mullah Regime reagiert, wie es schon immer reagiert hat – mit Gewalt. Aber die Bilder der jungen Mahsa Amini und der Proteste können die Mullahs nicht mehr löschen: Sie sind gespeichert auf Millionen Smartphones, Festplatten und Cloudcomputern – und in den Köpfen.
Die PR-Bilder
Die PR-Bilder des Jahres, zu solchen gekürt im Rahmen des diesjährigen PR-Bild-Awards von news aktuell, könnten unterschiedlicher kaum sein: Das Foto eines erschöpften Feuerwehrmanns im Einsatz (Foto: Feuerwehr Köln, Lars Jäger) und einen Sonnenaufgang über der Lüneburger Heide (Foto: Lüneburger Heide GmbH, Thorsten Link) hat die Publikums-Jury gewählt. Die Bilder zeigen Wunsch und Wirklichkeit des Jahres 2022: Der erschöpfte Kölner Feuerwehrmann steht symbolisch für die Ermüdung und Überforderung vieler öffentlicher Institutionen und Ihrer Mitarbeiter… bei Bahn und Post, den Rettungsdiensten, in den Krankenhäusern, in den Verwaltungen.
Aber das Bild zeigt auch Stärke: gute Ausrüstung, persönlicher Einsatz für die Allgemeinheit und Luft holen vor der nächsten Herausforderung. Das zweite Bild öffnet das Herz: das Drohnenbild vom Sonnenaufgang über der Lüneburger Heide scheint nach Morgenluft und Aufbruch zu riechen. Die Wahl der Publikums-Jury zeigt die (berechtigte) Sehnsucht nach Ruhe und Überschaubarkeit in einer Welt voller „Informationssmog“ (Bernhard Pörksen). Der Beginn eines neuen Tages, der flüchtige Moment des Morgennebels, all das kann Hoffnung wecken. Und weil das Jahr 2022 kein Jahr der Gipfelstürmer ist, wählt man ein Bild der flachen Lüneburger Heide, die mit ihrer kargen Schönheit symbolisch für unsere Zeit steht: Eine Zeit, die viele Mühen der Ebene bereithält.
Über den Autor: Jost Listemann ist Inhaber des Unternehmens Time:Code:Media GmbH in Berlin. Er berät große Unternehmen wie die Bayer AG und die Autobahn GmbH des Bundes und produziert für sie Bewegtbild-Kommunikation. Gestartet ist er als Politikwissenschaftler, seit dem Jahr 2000 ist er in der PR-Branche mit Schwerpunkt visuelle Kommunikation und Film tätig. An der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) unterrichtet er Storytelling und Bewegtbild.
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