Setzen auf Vertrauenskultur und Flexibilität: Die PR-COM-CEOs Martina Jahrbacher und Alain Blaes. (Quelle: PR-COM)

Interview mit den CEOs Martina Jahrbacher und Alain Blaes

Im Rahmen eines Pilotprojekts führt die Münchner Kommunikationsagentur PR-COM ab dem 1. Januar 2023 bedingungslosen Urlaub für alle Mitarbeiter ein. Mit dem Angebot des bedingungslosen Urlaubs können alle Teammitglieder im kommenden Jahr so viel bezahlten Urlaub nehmen, wie sie zur Erholung benötigen. Damit löst sich PR-COM von den zuvor vertraglich gewährten Urlaubstagen. PR-COM sieht diese Maßnahme als Teil einer seiner unternehmerischen Vertrauenskultur, die in der Agentur vorhanden sei. Durch den Wegfall der vertraglichen Begrenzung des bezahlten Urlaubsanspruchs gibt es also theoretisch kein Limit mehr für den nächsten Urlaub. Das PR-Journal hat bei den CEOs Martina Jahrbacher und Alain Blaes nachgefragt.

PR-Journal: Ihre Ankündigung zur Einführung des Vertrauensurlaubs in Ihrer Agentur reiht sich ein in die Maßnahmen anderer Agenturen. Wake-up Commnications in Düsseldorf hat beispielsweise im Februar dieses Jahres die 4-Tage-Woche eingeführt. Die Frankfurter Agentur Adel & Link gewährt seit Juni pro Monat einen weiteren Urlaubstag, also statt 30 Tagen nunmehr 42. Sie setzen nun mit „Urlaub ohne Limit“ noch eins drauf. Ist die Verzweiflung wirklich so groß, einerseits Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter halten und andererseits neue gewinnen zu können, oder was ist der Grund für diese Maßnahme?
Alain Blaes:
Gute Frage. Natürlich sind potentielle Kündigungen stets ein Damokles-Schwert. Gute Leute sind intern nicht unbedingt einfach zu ersetzen, auch nicht bei unserer Größe mit 45 Kolleginnen und Kollegen. Besonders kritisch war das, als der Arbeitsmarkt außerordentlich mau aussah. Diese Zeit scheint aber glücklicherweise vorbei zu sein. Kommt sie wieder? Keine Ahnung. Aber Verzweiflung? Nein, keine Spur.
Beide Aspekte spielen jedenfalls eine Rolle beim bedingungslosen Urlaub, aber tatsächlich ist unsere zentrale Motivation eine ganz andere – eine humanistische, wenn Sie so wollen. Ich persönlich mache mir schon lange Gedanken über die Bedeutung von Selbstbestimmung, spätestens seit ich die Star-Trek-Folge mit der Entführung von Jean-Luc Picard durch die Borg gesehen hatte. Darin sagt er: „My culture is based on freedom and self-determination.“ Mein Wunsch war immer, Selbstbestimmung für unsere Agentur zu übersetzen, zu leben und als Wert zu verankern. Nach der Einführung von bedingungslosem Homeoffice und flexibler Arbeitszeit ist ein weiterer Aspekt der Vertrauensurlaub.
Selbstbestimmung, wie wir sie verstehen, soll aber keine Einbahnstraße sein. Wir bieten bedingungslosen Urlaub an und erwarten, auch wenn unausgesprochen, einen gewissen Grad an Loyalität. Diese zusätzliche Freiheit bedingt aber auch ein Mehr an Eigenverantwortung und Eigenorganisation. Für viele ist es vielleicht gar nicht so einfach, aus der Alltagsroutine auszubrechen.

Selbstmord auf Raten?

PR-Journal: Werfen wir mal einen Blick auf die betriebswirtschaftlichen Aspekte. Kann Ihr Konzept wirklich aufgehen oder ist das in letzter Konsequenz Selbstmord auf Raten?
Martina Jahrbacher: Eine der ersten Fragen bei diesem Projekt war: Geht das nicht nach hinten los? Das Worst-Case-Szenario ist ja, dass die Arbeitsleistung der Agentur massiv in die Knie geht. Aber wir sind Optimisten und glauben an das Selbstregulativ. Wir hoffen, dass mehr Motivation und bessere Produktivität die urlaubsbedingten Fehlzeiten im Mittel mehr als wett machen werden.

PR-Journal: Nur noch mal zum Verständnis: Der unbegrenzte Urlaubsanspruch ist also nicht etwa gestaffelt und zieht beispielsweise ab 40 Tagen Gehaltskürzungen oder Einsparungen bei den Boni nach sich?
Martina Jahrbacher
: Korrekt. Er ist nicht gestaffelt, und es gibt keine finanziellen Kürzungen.

PR-Journal: Sie kennen Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sicher am besten. Aber besteht bei einer solchen Maßnahme wie „Urlaub ohne Limit“ nicht die Gefahr, dass die Underperformer sich einen schlanken Fuß machen und es am Ende die besonders verantwortungsbewussten und fleißigen Kolleginnen und Kollegen oder Sie selbst sind, die es dann durch Mehrarbeit rausreißen müssen? 
Alain Blaes: Sicher, die Gefahr besteht durchaus. Das ist eben der Preis für unseren Liberalismus, und wir müssen sowas, wenn auch ungern, schlucken. Wegen einzelner möglicher Abweichler, die die Spielregeln missbrauchen, lassen wir uns unsere Werte aber nicht vermiesen.

Was sagen die Kunden?

PR-Journal: Schauen wir mal aus der Kundenperspektive auf Ihre Ankündigung. Theoretisch haben Auftraggeber künftig in einem geringeren Umfang Zugriff auf ihre bevorzugten Beraterinnen und Berater, weil die mehr Urlaub haben. Da wird es möglicherweise Befürchtungen im Hinblick auf eine längere Projektdauer und Qualitätsverluste geben? Was entgegnen Sie auf Fragen dieser Art?
Alain Blaes: Das war tatsächlich auch die Befürchtung einiger Kollegen, die unsere Kunden deshalb gar nicht erst aktiv informieren wollten. Aber ist die Befürchtung der Kolleginnen nicht ein wunderbares Indiz dafür, dass wir mit unserer Initiative auf dem richtigen Weg sind? Sie machen sich Gedanken! Sie wollen für die Kunden da sein und das Richtige für sie tun! Sie übernehmen Verantwortung, und zwar aus eigenem Antrieb! Das ist genau das Wesen und der Geist der Selbstbestimmung, die wir fördern wollen.
Martina Jahrbacher: Als wir Kunden unseren jährlichen PR-COM-Gründungsfeiertag angekündigt haben, der ja nichts anderes als ein zusätzlicher Urlaubstag für alle ist, haben sie überaus positiv reagiert. Wir haben das netteste Feedback bekommen. Ich bin überzeugt davon, dass sie diese Initiative genauso positiv aufgreifen werden. Die Arbeitswelt verändert sich, das sehen auch unsere Kunden.

"Klassische Modelle werden schwinden"

PR-Journal: Vielleicht mögen Sie noch eine Prognose abgeben? Wohin führt der Trend zur Abkehr von klassischen Arbeitsorganisationsmodellen? Wo liegen die Chancen und wo liegen die Gefahren?
Alain Blaes
: Es wird immer wieder Vorreiter geben, die neue Dinge ausprobieren – die Trendsetter eben. Die große Masse der Unternehmen wird Errungenschaften langsamer oder gar nicht umsetzen, vielleicht auch, weil sie es gar nicht können. In eng getakteten Produktionsbetrieben ist bedingungsloser Urlaub sicher etwas anderes als in einer Kommunikationsagentur. Aber ja, die klassischen Modelle werden vielleicht nicht vollständig schwinden, aber sie werden schwinden: Das Corona-bedingte Homeoffice hat doch die Welt vollständig revolutioniert. Wer hätte das vor drei Jahren gedacht?
Martina Jahrbacher
: Vieles hängt aber auch am Gesetzgeber. Er muss schneller werden und Veränderungen nicht immer hinterherhinken. Einer Kollegin etwa, die nach Australien umgezogen ist, mussten wir kündigen, weil unsere Steuergesetze längere Arbeitszeiten im Ausland nicht gestatten. Sie hat jetzt einen Freelancer-Vertrag.
Alain Blaes
: Um es auf den Punkt zu bringen: Die Chancen sehen wir in motivierten und selbstbestimmten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, in agileren Unternehmen und einer bewussteren Gesellschaft. Zu den Gefahren zählt sicherlich das Missbrauchsrisiko und vielleicht auch ein Organisations-Chaos, das durch großen Verwaltungsaufwand verursacht wird.

PR-Journal: Frau Jahrbacher, Herr Blaes, vielen Dank für die Beantwortung unserer Fragen.


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