Branche FOMO, Fame und Filterblasen Cannes findet abseits des Palais statt
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- von Florian Laszlo, Wien
Das Cannes Lions Festival gilt als Branchengipfel der internationalen Kreativszene, doch wer wirklich verstehen will, was dort passiert, muss abseits des offiziellen Programms schauen. Die Magie liegt nicht auf der Bühne, sondern zwischen Sideevents, Beach Lounges und spontanen Begegnungen. Persönliche Netzwerke, exklusive Meetings und Social-Media-taugliche Auftritte prägen das Bild – mitunter stärker als inhaltliche Tiefe.

Wenn man erzählt oder postet, dass man nach Cannes fährt, ist einem die Bewunderung sicher. Das Cannes Lions Creative Festival ist im 72. Jahr seines Bestehens die größte Event-Marke in der Kommunikationsbranche, vergleichbar mit dem Oscar, dem Academy Award of Motion Picture and Science. Auch die Show kann durchaus mithalten mit dem bekannten Filmpreis, denn hier wie dort findet nur ein Teil in der Kongress-Halle statt, der andere rundherum.
Eine Agentur hat 1.100 Sideevents (!) aufgelistet, die in den fünf Tagen alle in Cannes stattfinden. Das Stelldichein der gefühlt gesamten Kommunikationsbranche von weltweiter und regionaler Geltung, ist eine wunderbare Gelegenheit persönliche Begegnungen zu machen. Dafür gibt es so viel Möglichkeit, dass es scheint, FOMO wurde in Cannes erfunden. Jede:r erlebt ein eigenes Cannes mit gelegentlichen Überlappungen, die aber fast grundsätzlich zufällig stattfinden müssen. Dafür trifft man auch unerwartet Menschen – einem bekannte, wie unbekannte – was die Einzigartigkeit jedes Cannes Trips noch weiter erhöht.
Wenn man selbst gesehen hat, was passiert ist, relativiert das den Eindruck der tollen Welt auf Social Media radikal.
Dank Sponsoren, wie LinkedIn, TikTok, Pinterest, Reddit, Meta und Snapchat kann man auch auf diesen Platformen an den Cannes Erlebnissen anderer teilhaben. Dabei kommt es übrigens zur ersten beruhigenden Wirkung des Selbst-live-vor-Ort-Seiens: Wenn man selbst gesehen hat, was passiert ist und die Influencer bei der Arbeit beobachten konnte, dann relativiert das den Eindruck der tollen Welt auf Social Media radikal.
Den Stars kommt man beim Festival trotzdem sehr nahe. Das gilt für kulturelle Ikonen wie Paris Hilton, Künstler:innen wie Busta Rhymes, Sportler:innen wie Alex A-Rod Rodriguez oder Comedians wie Jimmy Fallon gleichermaßen und ist unterhaltsam. Aber auch CMOs und CEOs großer Konzerne kann man ganz nahe kommen. (Dass es sich dabei ausschließlich um Amerikaner handelt, ist kein Zufall, da die Kommunikationswelt in Cannes scheinbar nur angloamerikanisch ist.)
Eindrücke aus Cannes (Fotos: Florian Laszlo)
Zum Teil hat man richtig Mitleid mit all diesen Stars, die Millionen verdienen und große Hallen füllen können. In Cannes sitzen sie oftmals im nicht klimatisierten Freien oder am Strand und müssen vor nur 20 bis 50 Personen Fragen beantworten. Sie tun das mit der gleichen Energetik, wie sie große Hallen behandeln würden, nicht zuletzt weil das Social Media Team dabei ist und auch viele Teilnehmer:innen gleich posten ...
Die deutsche Marketing- und Kommunikationsbranche war personell durchaus breit vertreten. Unter den Sponsoren und großen Partnerunternehmen der Cannes Lions fällt vor allem RTL auf, das mit einem eigenen Beach groß präsent waren. Hinter Bauer Media jedoch, die im inoffiziellen Programm Podiumsdiskussionen im Hotel Carlton abhielten, steckte Bauer Media UK. Ebenso abseits des Programmes war Campaign Deutschland mit einer Party präsent, wo sich dann knapp 100 deutschsprachige Agenturvertreter:innen zu Drinks und Häppchen trafen.
Somit ist Deutschland bei den Teilnehmenden ohne groß sichtbare Präsenz. Für das Siegertreppchen der Cannes Löwen reicht es: Dort immerhin konnte Deutschland mit 30 Löwen punkten. Diese wurden gefühlt aber in einer parallelen Veranstaltung vergeben, die im Alltag der Croisette nicht beachtet wurde.
Die Oberflächlichkeit und Aussagelosigkeit der meisten Redebeiträge war schon beeindruckend.
Inhaltlich konnte ich in meinem Cannes nicht viel Gehaltvolles finden. Die Oberflächlichkeit und Aussagelosigkeit der meisten Redebeiträge der gefeierten CMOs und Media-Verantwortlichen war schon beeindruckend. Zu allen aktuellen Themen wie AI oder Retail Media etwa, produzierten die Softball-Fragen der Moderator:innen langweilige Allgemeinplätze, deren Banalität von Superlativen und großen Zahlen eher noch betont wurde. Das galt vor allem bei Unternehmens- und Agenturvertreter:innen auf Mehrpersonen-Podien, war leider aber auch so bei wichtigen Themen, wie dem Black at Cannes, wo es u.a. um die Position von Minderheiten unter den Mitarbeitenden, aber auch um das Marketing für Produkte für afrikanisch-stämmige Menschen ging.
Besonders bereichernd waren die Beiträge afrikanischer Marketeers, die eigene Erfahrungen und Sichtweisen ins „Diversity Marketing“ einbrachten. Ergänzt wurden sie durch Diskussionen afro-amerikanischer und afro-britischer Fachleute über angemessene und wirksame Formen der Zielgruppenansprache. Diese Podien waren in Ehrlichkeit und Tiefgang die inhaltlichen Höhepunkte, neben den wissenschaftlichen Vortragenden, etwa zu Behavioral Science.
Die Grundeinschätzung bleibt jedoch und wurde in vielen Gesprächen auch immer bestätigt: Die Magie von Cannes liegt nicht auf den Podien, sondern in den vorvereinbarten Terminen in ruhigen Hotel-Zimmern und Meeting-Räumen. Diese sind dann zwar gebrandet, aber gut abgeschirmt und nur mit Terminvereinbarungen zugänglich. Sie sind der Grund, warum die großen Agenturen, TV-Anstalten und Unternehmen hier präsent sind. Denn bei aller Digitalisierung werden die Entscheidungen von Menschen getroffen – was in der Sonne Südfrankreichs, reichlich nachmittäglichem Rosé-Konsum und lauten Parties auf Multimillionen Dollar Yachten, deutlich leichter fällt.
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