Unternehmen Krisenkommunikation Der Transparenz verpflichtet?

Als SOS-Kinderdorf im Oktober 2024 den Abschlussbericht einer Unabhängigen Kommission zu Missbrauch und Unrecht veröffentlicht, steht mehr auf dem Spiel als nur ein mediales Echo. Es geht um Glaubwürdigkeit, um Verantwortung und um den Versuch, Vertrauen zurückzugewinnen. Ein offener Einblick in die strategischen und emotionalen Tiefen einer Aufarbeitungskommunikation, der zeigt, wie ein Verein unter Beobachtung den schwierigen Spagat meistert zwischen öffentlicher Übernahme von Verantwortung und dem Schutz seiner Zukunft.

Pressekonferenz am 2. Oktober 2024 (Foto: SOS-Kinderdorf e.V. / Andre Kirsch)

Der SOS-Kinderdorfverein ist seit 1955 in Deutschland als Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe aktiv. In dieser Zeit sind über 10.000 Kinder und Jugendliche in den stationären Angeboten des Vereins, wie etwa den SOS-Kinderdörfern, aufgewachsen. In den vergangenen Jahren hat sich der Verein, wie auch andere Institutionen des Staats, der Kirchen und des Sports, der Frage gewidmet, ob junge Menschen in seinen Einrichtungen Unrecht und Missbrauch erleiden mussten.

Ein erstes Gutachten

Im Oktober 2021 hatte ein unabhängiger Experte ein Gutachten abgeschlossen, dass seine Erkenntnisse zu Unrechtsfällen und Missbrauch in den 1950er und 1960er Jahren in einem SOS-Kinderdorf in Bayern schilderte. Dieses Gutachten konnte aufgrund der darin enthaltenen persönlichen Daten nicht veröffentlicht werden, empfahl aber, eine umfassendere Untersuchung für das gesamte Bundesgebiet einzuleiten. Die mediale Berichterstattung zu diesem nicht veröffentlichten Gutachten war kritisch: Medienvertreter:innen und Stakeholder:innen waren unzufrieden mit der Veröffentlichung einer Zusammenfassung des Gutachtens und vermuteten eine intransparente Haltung.

SOS Kinderdorf Abschlussbericht "Der Auarbeitung verpflichtet"Im gleichen Jahr berief der Verein eine neue Vorstandsvorsitzende mit einem klaren Auftrag: Prof. Sabina Schutter sollte die Aufarbeitung und die Weiterentwicklung des Kinderschutzes zur Chefinnensache machen. 2022 setzte der Verein eine unabhängige Kommission ein, im Oktober 2024 dann wurde der Abschlussbericht der „Unabhängigen Kommission zur Anerkennung und Aufarbeitung erlittenen Unrechts“ veröffentlicht (Foto: SOS-Kinderdorf e.V. / Andre Kirsch) . Über zwei Jahre lang wurde untersucht, wie es in der Vergangenheit zu grenzüberschreitendem Verhalten in den pädagogischen Angeboten von SOS-Kinderdorf kommen konnte, und ob es sich um Einzelfälle handelte oder ob es Strukturen gab, die Fehlverhalten ermöglichen und ihre Verfolgung erschweren.

Zielsetzung der Kommunikation

Bereits mit der Berufung der Kommission begann SOS-Kinderdorf, die Kommunikation zur Aufarbeitung und zum Thema Kinderschutz neu zu gestalten: Aufrichtigkeit, Verlässlichkeit und ein Fokus auf die Interessen der Betroffenen sollten im Mittelpunkt stehen. Das nach dem 2021 nicht veröffentlichtem Einzelgutachten verlorengegangene Vertrauen sollte wieder hergestellt werden. Der Verein entschied sich dazu, transparent und sachgerecht zu kommunizieren: Warum wurde diese Unabhängige Kommission eingesetzt, was wird sie untersuchen, und was hat sie herausgefunden Von Beginn an war dabei das Ziel, den Abschlussbericht vollständig zu veröffentlichen.

Betroffene und ihre Anliegen sollten im Mittelpunkt stehen – ohne dabei von der Verantwortung des Vereins und strukturellen Mängeln innerhalb der Organisation abzulenken. Aus diesem Grund finanzierte der Verein einen öffentlichen Aufruf der Unabhängigen Kommission im Januar 2023, der in lokalen und regionalen Tageszeitungen im Umfeld der Einrichtungen von SOS‐Kinderdorf veröffentlicht wurde. Dieser Aufruf wurde soweit möglich auch direkt an Ehemalige geschickt, in der Hoffnung, Menschen zu erreichen, die zur Aufarbeitung beitragen würden. 

PRJournal Bauer Krisenkommunikation Bericht

Infografik für Presseversand (Grafik: SOS-Kinderdorf e.V.)

Dieser Fokus auf Betroffene fand sich auch im Abschlussbericht selbst wieder: Hier hat die Unabhängige Kommission den Stimmen der Betroffenen viel Raum gegeben und ihre Erlebnisse und ihre Erzählungen anonymisiert wiedergegeben und eingeordnet auf etwa 18 Seiten. 

Herausforderungen

Die größte Herausforderung bestand darin, das Thema angemessen und mit der nötigen Transparenz zu kommunizieren. Zu viele Jahre hatten Betroffene das Gefühl, dass sie nicht gehört werden, dass ihren Stimmen und Erlebnissen kein Raum gegeben wird, dass ihre Erlebnisse nicht ernst genommen werden. Gleichzeitig galt es, wie für jede spendensammelnde Nichtregierungsorganisation, den Ruf und die Reputation des Vereins in einer Krise zu schützen. Viele der Angebote, die täglich junge Menschen, Familien und Menschen mit Behinderung unterstützen, sind direkt auf Spenden angewiesen – bleiben diese aus oder gehen dauerhaft zurück, müssen Hilfsangebote gestrichen werden.

Eine weitere Herausforderung lag in der Größe und Komplexität der Aufgabe, die der Unabhängigen Kommission übertragen wurde. Die ehrenamtlich tätigen Mitglieder mussten Unterlagen sichten, Ortsbesuche in einzelnen SOS-Kinderdörfern machen und mit Betroffenen und Zeitzeugen sprechen. Die Vorgehensweise musste im Laufe der Zeit angepasst werden – mit Konsequenzen für die Verlässlichkeit der Kommunikation: Es war lange nicht möglich, klar zu sagen, wann genau der Bericht vorliegen würde bzw. wann SOS-Kinderdorf diesen erhalten und veröffentlichen könnte. 

Auch der öffentliche Aufruf brachte eine weitere Herausforderung: die Platzierung als Anzeige in deutschen Tageszeitungen war unkompliziert, die redaktionelle Berichterstattung dagegen brachte dem Aufruf selbst leider keine weitere Aufmerksamkeit. Zudem gab es auch innerhalb der Organisation während der gesamten Zeit der Aufarbeitung Zweifel und den vagen Wunsch, den Abschlussbericht vielleicht doch lieber nicht zu veröffentlichen. Letztlich bestand jedoch die Entscheidung der obersten Führungsgremien, den Abschlussbericht vollständig zu veröffentlichen.

Kommunikationstrategie

Zwischen 2022 und 2024 wurde kontinuierlich auf allen Kanälen des Vereins zu den Themen Kinderschutz und Aufarbeitung kommuniziert: von der Einsetzung der Unabhängigen Kommission, über den Aufruf an Betroffene und die Vorstellung bereits stattfindender Änderungen im Kinderschutz vor Ort, bis hin zur Veröffentlichung des Abschlussberichts. Die Öffentlichkeit war entsprechend vorbereitet und wurde durch die Veröffentlichung des Abschlussberichts nicht überrascht; die Darstellung der bereits unternommenen Anstrengungen schufen Vertrauen und gleichzeitig konnte auch Verständnis geschaffen werden für die komplexen Herausforderungen, die in der stationären Kinder- und Jugendhilfe gegeben sind, und die auch in Zukunft diese Arbeit prägen werden. 

Ein weiterer strategischer Schritt im Verlauf der Kommunikation war die aktive Ansprache von Stakeholder:innen und Partner:innen. Dabei wurde Verantwortung an Fachbereiche und Standorte delegiert: Welche Spender:innen werden vorab informiert? Welche Unternehmen werden von wem kontaktiert? Wer informiert das lokale Jugendamt, die Landesheimaufsicht, den oder die jeweilige Bürgermeister:in? Zentral vom Krisenmanagement gesteuert wurde nur die Kommunikation mit ausgewählten Gruppen: Betroffene, die bereits mit SOS-Kinderdorf in Kontakt standen, wurden über die etablierten Wege informiert, Journalist:innen und Medienvertreter:innen zentral von der Pressestelle der Geschäftsstelle , Mitarbeitende, Führungskräfte und auch die Staatsanwaltschaft wiederum direkt vom Büro der Vorstandsvorsitzenden. 

Das neue Krisenmanagement

Grundlage für die Übertragung der Verantwortung auf viele Schultern war die neue Krisenstruktur im Verein, die im April 2024 eingeführt worden war. Ein Krisenleitfaden legt seitdem fest, wer zu welchem Zeitpunkt vorbeugend oder reaktiv Maßnahmen ergreift, um Schutzbefohlene, Mitarbeitende und den Verein sowie dessen Reputation zu schützen. Der Leitfaden definiert eine Situation dann als eine Krise, wenn sie:

  1. die tägliche Arbeit von SOS-Kinderdorf, den Einsatz für die Interessen der Betreuten oder das Fortbestehen des gesamten Vereins bedroht;
  2. und/oder nicht durch die üblichen Arbeitsroutinen, sondern nur auf der Grundlage spezieller Krisenroutinen gehandhabt werden kann.

Um solchen Ausnahmesituationen angemessen zu begegnen, legt der Krisenleitfaden eine Organisationsstruktur in drei Ebenen fest: Die Krisenaktivierung entscheidet, ob ein Krisenfall vorliegt. Wenn ja, wird der Krisenmodus ausgerufen und der Krisenstab einberufen, der alle strategischen Entscheidungen trifft zum Umgang mit der Krise und zum Erhalt der Reputation. Das operative Krisenmanagement, das in den einzelnen Fachbereichen liegt, passt die beschlossenen Kommunikationsmaßnahmen und Inhalte für die jeweiligen betreuten Zielgruppen oder Stakeholder an und setzt diese um.

Einige Wochen vor der geplanten Veröffentlichung des Abschlussberichts am 02.10.2024 wurde der Krisenmodus ausgerufen. Zuerst wöchentlich und zum Schluss zweimal täglich trat der Krisenstab unter Leitung der Krisenkommunikation zusammen, um Strategien und Maßnahmen festzulegen und Fragen und Erwartungen aus dem operativen Geschäft zu diskutieren. 

Vorgehen

Sechs Wochen vor der Veröffentlichung des Abschlussberichts begannen Schulungen für 160 Mitarbeitende. Unter den Teilnehmer:innen waren rund 80 Vertreter:innen der SOS-Kinderdörfer vor Ort, zumeist auf Leitungsebene oder aus der Öffentlichkeitsarbeit, 60 Mitarbeitende aus dem Ressort Marketing und 20 weitere Führungskräfte und Mitarbeitende aus verschiedenen Fachbereichen. In zwei Runden wurden Mitarbeiterinnen in Kleingruppen in Theorie und Praxis der Krisengesprächsführung geschult. Der erste Termin behandelte allgemeine Szenarien, der zweite Termin erfolgte dann wenige Tage vor der Veröffentlichung des Abschlussberichts und beinhaltete die finalen Botschaften zur anstehenden Veröffentlichung. 

Währenddessen bereitete die Krisenkommunikation die finalen Inhalte zur Kommunikation vor: Botschaften zur Veröffentlichung, ein Fragen-und-Antworten-Katalog, Vorschläge für Social Media-Kanäle, eine Webseite zur Veröffentlichung, eine klassische Pressemitteilung mit Foto- und Videomaterial und grafische Umsetzungen der wichtigsten Zahlen und Fakten aus dem Bericht.

Auf Basis dieser Dokumente konnten die Kanal- und Zielgruppenverantwortlichen zwei Wochen vor der Veröffentlichung damit beginnen, ihre jeweiligen Stakeholder über den Abschlussbericht zu informieren und erste Fragen zu beantworten. Diese Dokumente wurden auch an die Schwestervereine von SOS-Kinderdorf im Ausland verteilt.

Gleichzeitig wurden auf Grundlage eines einjährigen Issue Monitorings zu den Themen Kinderschutz und Aufarbeitung Journalisten angesprochen und zu einem Pressetermin nach der Übergabe des Abschlussberichts eingeladen. Dieser Medientermin fand mit vier der fünf Mitglieder der Unabhängigen Kommission statt und gab ihnen die Möglichkeit, ihre Ergebnisse, Erkenntnisse und Empfehlungen zu präsentieren. Für SOS-Kinderdorf nahm die Vorstandsvorsitzende Sabina Schutter an dem Termin teil. 

Die aufrichtige Anerkennung des Leids und die Bitte um Entschuldigung bei allen Betroffenen war Kern der Botschaften von SOS-Kinderdorf an diesem Tag. Im Anschluss an das Pressegespräch versendete die Pressestelle eine Pressemitteilung mit Sperrfrist für den frühen Nachmittag an einen bundesweiten Verteiler. Zeitgleich zum Ende der Sperrfrist erschien der Abschlussbericht dann auch auf den Webseiten von SOS-Kinderdorf und der Kommission.

Resultate

Fünfzehn Journalist:innen von bundesweiten Medien nahmen an dem Pressetermin digital oder vor Ort teil. Die Berichterstattung dieser Journalist:innen prägte das Medienecho. 
Am Abend des 2. Oktober und den beiden Folgetagen erschienen rund 200 Printartikel, über 250 Online-Artikel, mehr als 100 Radioberichte und TV-Berichte.

Bis auf wenige Ausnahmen war die Berichterstattung von einer konstruktiv-kritischen Grundhaltung geprägt. Fast alle Medien übernahmen die detaillierte Aufschlüsselung der Zahlen. In der Öffentlichkeit wurde die Veröffentlichung bzw. die Berichterstattung zur Veröffentlichung größtenteils wohlwollend aufgenommen. Stakeholder:innen, wie etwa die Jugendämter oder Kontakte auf politischer Ebene, waren dankbar für die proaktive Information vorab.

In den sozialen Medien war das Echo auf die Veröffentlichung erwartungsgemäß weniger positiv, Ausmaß und Tonalität waren aber auch hier besser als erwartet: Knapp über die Hälfte der Kommentare und Direktnachrichten auf Facebook, Instagram und TikTok waren negativ, in der gleichen Zeit erhielten die Posts von SOS-Kinderdorf auf diesen Kanälen aber deutlich mehr positive Interaktionen, und teilweise stiegen bei einzelnen Kanälen sogar die Followerzahlen in den Wochen nach der Veröffentlichung.

Lessons Learned

Welche Lektionen können nun aus der Krisenkommunikation zur Veröffentlichung des Aufarbeitungsberichts gezogen werden? Intern hat sich sie die neu etablierte Krisenstruktur und das Vorgehen im Krisenleitfaden bewährt. Als ebenso wertvoll haben sich die umfangreichen Schulungen und Trainings erwiesen, die für 160 Mitarbeiter angeboten wurden. Für die konstruktive Haltung der Medien waren mutmaßlich entscheidend, dass die Entscheidung zur Transparenz und zur vollständigen, umgehenden Veröffentlichung frühzeitig getroffen wurde, dass die Kommunikation auf eine Botschaft und ein Gesicht der Aufarbeitung in own, paid und earned media fokussiert wurde, und dass die Hintergründe und Details zu den Zahlen des Berichts verständlich aufbereitet und so von Medien übernommen wurden.

Doch es gab auch Punkte, die noch verbessert werden können: Eine Einbindung von Betroffenen in die Veröffentlichung des Abschlussberichts wäre ein weiterer wichtiger Schritt gewesen, um sie und ihre Geschichte ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen. Dies war im Oktober 2024 nicht möglich, unter anderem auch, weil es noch keine formalisierte Vertretung der Betroffenen im Verein gab. Auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung, am Tag vor einem bundesweiten Feiertag, war nicht ideal.

Für SOS-Kinderdorf geht die Aufarbeitung weiter – und damit auch die Verpflichtung zur transparenten Kommunikation. Vereinsübergreifend arbeitet der Verein daran, in Zukunft betroffenensensibler zu kommunizieren (eine der Empfehlungen der Kommission). In den kommenden Jahren werden die Fortschritte bei der Umsetzung der Aufarbeitung und auch neue Meldungen und Fälle einmal jährlich veröffentlicht werden – denn der Verein ist und bleibt der Aufarbeitung und der Transparenz verpflichtet.

Über den Autor: Tobias Bauer (Foto: SOS-Kinderdorf e.V.) leitet die Stabsstelle für Advocacy, Presse und Krisenkommunikation bei SOS-Kinderdorf. Seit fast 20 Jahren kommuniziert er im Auftrag nationaler und internationaler Organisationen in den Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe, der humanitären Hilfe, der Entwicklungszusammenarbeit und der politischen Interessensvertretung.

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