Case-Study: Wir haben Deutschland gefragt: „Was ist deine Zahl?“
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- von Christina Marie Rautenberg, Hamburg
Gewalt an Frauen findet jeden Tag in der Mitte unserer Gesellschaft statt. Sie ist ein gesellschaftliches Problem und kein Einzelschicksal. Denn jede dritte Frau ist statistisch mindestens einmal in ihrem Leben von physischer und/oder psychischer Gewalt betroffen. Diese Gewalt ist allgegenwärtig: Zuhause, bei der Arbeit, im Netz. Manchmal könnte man sie fast übersehen, aber nur fast. Zeit, das zu ändern und gemeinsam etwas dagegen zu tun. Denn: Gewalt gegen Frauen geht uns alle an – und nur gemeinsam sind wir stärker als Gewalt!
96 Prozent der Deutschen verurteilen Gewalt gegen Frauen, doch noch setzen sich zu wenige aktiv dagegen ein. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (kurz BMFSFJ) hat deshalb eine Kampagne in Auftrag gegeben, die Menschen motivieren soll, sich gegen alle Formen von Gewalt gegen Frauen einzusetzen. Ziel der Kampagne ist es, Menschen darin zu bestärken, ihre Zweifel und Unsicherheiten zu überwinden, Verantwortung zu übernehmen und gegen Gewalt einzutreten.
Zielgruppe unserer Kommunikation sind deshalb nicht allein die von Gewalt betroffenen Personen, sondern auch ihr Umfeld, Familie, Freunde, Nachbarschaft.
Zum 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, veröffentlichen das BMFSFJ und das Bundeskriminalamt die Sonderauswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik zu Partnerschaftsgewalt. Diesen Anlass haben wir 2019 als Kampagnenauftakt mit der Gründung der Initiative „Stärker als Gewalt“ genutzt, um die Zahlen der Kriminalstatistik in ihrer ganzen Wucht sprechen lassen: 140.755 Fälle von Partnerschaftsgewalt wurden im Jahr zuvor zur Anzeige gebracht. Aber die Dunkelziffer betroffener Frauen lag statistisch bei 12.011.459. Das ist jede dritte Frau in Deutschland.
Strategie
Bisherige Ansätze, Gewalt gegen Frauen sichtbar zu machen, haben überwiegend auf eine Ansprache über Bilder gesetzt, die geschlagene, weinende, verzweifelte Opfer in den Mittelpunkt gestellt haben. Dies verfestigte die Vorstellung der äußerlich sichtbaren Spuren von Gewalt und der Hilflosigkeit der Betroffenen. Wir sind deshalb einen neuen Weg gegangen: Wir haben den Blick auf das gelenkt, was jede und jeder Einzelne gegen Gewalt an Frauen tun kann.
Unsere Strategie: Wir haben ein Thema, das vielen Menschen vermeintlich sehr fern liegt, in ihre persönliche Lebenswirklichkeit geholt.
Unser Türöffner: Mathematik. Jedes Jahr im November veröffentlicht das Bundesfrauenministerium die aktuellen Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik zu Partnerschaftsgewalt – diesen Anlass haben wir genutzt und die nüchternen Zahlen in ihrer ganzen Wucht sprechen lassen: Denn was bedeuten diese Zahlen für jede und jeden Einzelnen persönlich?
Wir fragten deshalb ganz Deutschland: „Was ist deine Zahl?“. Denn wenn jede dritte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben von physischer oder psychischer Gewalt betroffen ist, dann kennt jeder Mensch hierzulande mindestens eine. Um mit dieser Leitidee die Menschen in Deutschland zu erreichen, haben wir sie in zahlreiche Maßnahmen übersetzt, die direkt in unsere Zielgruppen hineingewirkt haben.
Umsetzung
Damit jede und jeder für sich selbst leicht errechnen konnte, wie viele Frauen im persönlichen Umfeld statistisch betroffen sind, haben wir ein Rechner-Tool für die „Stärker als Gewalt“-Website entwickelt, das die Anzahl der von Gewalt betroffenen Frauen im eigenen Umfeld errechnet hat: Im Freundeskreis, im Kolleginnenkreis, in der Facebook-Community, in der eigenen Stadt. Mithilfe der Zahlenlogik vermittelten wir auch den zum Auftakt geladenen Journalistinnen und Journalisten eindrücklich, welch hohe Relevanz das Thema „Gewalt gegen Frauen“ für ihr Zielpublikum hat. Wir haben die abstrakten Daten auf die weibliche Leserschaft jedes Mediums heruntergebrochen und damit gezeigt, wie viele ihrer Leserinnen, Zuschauerinnen oder Zuhörerinnen statistisch betroffen sind.
Auch die damalige Bundesministerin Franziska Giffey teilte ihre persönliche Zahl – errechnet auf Basis ihrer weiblichen Facebook-Followerinnen – und setzte damit ihr visuell deutliches Zeichen: „Gewalt gegen Frauen geht uns alle an.“ Mit der Pressekonferenz erreichten wir unser für den Kampagnenauftakt gesetztes Ziel: Die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen war am 25. November 2019 das Top-Thema des Tages und die erste Nachricht in der Tagesschau um 20 Uhr.
Wir haben darüber hinaus alle an der Aktion „Was ist Deine Zahl?“ teilnehmenden Menschen dazu motiviert, ihre persönliche Zahl auf ihren Social-Media-Kanälen zu teilen. Jeder Beitrag war direkt mit der Website www.stärker-als-gewalt.de verlinkt.
In Zusammenarbeit mit 13 bundesweit tätigen Fachpartnerorganisationen haben wir die Initiative „Stärker als Gewalt“ und die gleichnamige Website als Plattform geschaffen, die als Herzstück erstmals die wichtigsten bundesweiten Angebote und weiterführende Informationen bündelt. Die Informationen auf der Website helfen dabei, Gewalt gegen Frauen und auch Männer besser zu erkennen, Betroffene effektiver zu unterstützen und Auswege aus der Gewalt zu finden.
Wir arbeiteten zusätzlich für die Aktion mit zahlreichen Influencerinnen, Influencern und prominenten Personen zusammen, die ihre persönliche Zahl und Calls-to-Action in den sozialen Medien veröffentlichten und ihre Communities dazu aufriefen, die eigenen Zahlen zu errechnen und zu teilen. Auf diese Weise erhielt die Aktion „Was ist Deine Zahl?“ hohe Sichtbarkeit und digitale Reichweite.
Unseren begleitenden Kampagnen-Film, der die persönliche Nähe zu jeder dritten Frau greifbar machte und ebenfalls mit einem Call-to-Action zur Berechnung der eigenen Zahl aufrief, verbreiteten wir mit Social-Paid-Maßnahmen auf YouTube, Twitter, Facebook und Instagram.
Zeitgleich haben wir rund um den 25. November in 22 großen deutschen Städten vor Ort mit weithin sichtbaren Projektionen an zentralen Plätzen die Zahl der Frauen gezeigt, die in der jeweiligen Stadt statistisch gesehen mindestens einmal im Leben von Gewalt betroffen sind. Flankiert wurden die Projektionen von jeweils Hunderten von Türhängern in der direkten Umgebung, die über die Initiative und ihre Hilfeangebote informierten. Diese Guerilla-Aktionen und begleitende Presseinformationen transportierten das Thema auf die lokale Ebene und waren der Auslöser für lokale Presseberichterstattung
Ergebnisse
Das mediale Echo auf den Auftakt zur Initiative „Stärker als Gewalt“ war mit mehr als 1.700 Beiträgen riesig. Am bedeutendsten für uns aber war die Resonanz auf die Hilfeangebote: An der Initiative beteiligte Fachpartner wie das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ und der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe verzeichneten nach dem Auftakt einen deutlichen Anstieg an Hilfeanfragen – insbesondere auch aus dem Umfeld betroffener Personen.
Zwar erheben die Beratungsstellen nicht, worüber die anfragenden Personen auf die Hilfeangebote aufmerksam geworden sind. Aber der Anstieg war laut den Verantwortlichen deutlich zu spüren und auf den Kampagnenauftakt zurückzuführen.
Seit dem Auftakt konnten wir mit weiteren neuen Aktionen und Maßnahmen mehr als 300 Organisationen, Unternehmen, Verbände, Prominente und Privatpersonen zur Unterstützung der Initiative „Stärker als Gewalt“ gewinnen. Speziell auch während der Corona-Pandemie mit der kürzlich vom PR Report zur „Kampagne des Jahres“ ausgezeichneten Kampagne „Zuhause nicht sicher?“
Mit ihr haben wir in kürzester Zeit auf die akuten Herausforderungen der Corona-Pandemie reagiert und mit den acht größten Supermarktketten eine einzigartige Kooperation auf die Beine gestellt. Mit den zentral sichtbaren Hinweisen in den Supermärkten und auf Produkten, die den Weg direkt in die Haushalte fanden (Bildquelle © BMFSFJ), haben wir Betroffenen und ihrem Umfeld leicht zugänglich gezeigt, wo sie Hilfe erhalten.
Weitere Informationen zu den Aktionen und Maßnahmen gibt es hier sowie auf www.staerker-als-gewalt.de
Hinweis: Dieser Beitrag wurde verfasst von der Agentur Edelman Deutschland, Frankfurt am Main. In unserer Kooperations-Rubrik „Kreativ-Cases“ bieten wir Kommunikationsprofis die Möglichkeit, aktuelle Cases vorzustellen.
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