Brüssel: Europäisches (Nicht) Management durch die Kommission - Gesundbeten statt Kommunikationsstrategie

In einem Artikel für das EUROjournal 1/2012 bemängelt der Heidelberger Publizist Wolfgang Reineke die Versuche der Kommission, eine praktikable Kommunikationsstrategie erfolgreich umzusetzen.
Die neue Kommissarin mit der Zuständigkeit für Kommunikation, Viviane Reding, will einen "Kulturschock" und eine wahre "Revolution" der existierenden Brüsseler Kommunikationsmethoden erzeugen.
Viviane Redings Stoßrichtung wurde bereits im Juni 2010 in ihrem Brief and den Präsidenten der Kommission, José Manual Barroso deutlich. Im operativen Bereich bietet sie ihm ein Besteck technischer Neuheiten und "neue Gesichter", etwa bei den Redenschreibern an, um seine Person in der Öffentlichkeit stärker zu positionieren. Ob "Kulturschock" und "Kommunikationsrevolution" nur vollmundige Vokabeln oder der Beginn eines wirksamen Prozesses sind, wird sich in den kommenden Jahren erst erweisen müssen.

Was auffällt, ist die bisher geringe Beachtung des Interesses und der Wüsche der europäischen Bürger in dieser Strategie. Die Instrumente sind da, die Inhalte nicht. Es gibt noch nicht den europäischen Bürger, wohl aber zahlreiche Gruppierungn mit sozialer europäischer Intelligenz im EU-Raum und im geographischen Europa.
Es gibt also zahlreiche Öffentlichkeiten und nicht eine fiktive europäische Öffentlichkeit:

EU: Mehr als 4 Millionen Quadratkilometer, mehr als 500 Millionen Einwohner, 23 Amtssprachen seit 1.1.2007 (für die offiziellen Veröffentlichungen), 60 Gemeinschaften (regional und Minderheiten) walisisch bis kaschubisch, 75 % Christen, 8 % Muslime. Geographisch 46 souveräne Staaten mit einem Teil ihrer Fläche in Europa, 28 davon in der EU mit 271 Regionen und 455 Programmen der EU.

Noten für die aktuelle Lage:

polity = Normen – hervorragend gelöst in formalen Teilen. Formale Dimensionen, Normengefüge, Verfahrensregeln der Politik, institutionelle Dimension

policy = Inhalte – mangelhaft und zu detailliert formuliert. Inhaltliche Dimension der Politik, konkret transportierte Politik, Ergebnisformulierung der Politik

politics = Prozeß – Nachhaltigkeit kaum zu erkennen. Prozessuale Dimension von Politik

Die EU-Informationen über sich selbst haben kaum "nationale" Perspektiven der 28 Staaten im Focus. Daran hat sich bei der Umsetzung der hehren Ziele der Kommission nicht viel geändert. Die Gefahr des unaufhaltsamen Abgleitens in konzeptionsloses Bruchstückdenken besteht.

Für den Zeitfaktor der praktischen Umsetzung von Interessen der einzelnen Länder und Regionen, Interaktionen und Verhandlungspositionen gilt die Formel (n + 1) x n für die Gesamtheit der Transaktionen. Also: Das Europa der 6 (6 + 1) x 6 = 42 Transaktionen oder Kommunikationen. Im Europa der nun 28 sind es (28 + 1) x 28 = 811 Transaktionen. Vorbereitungen, Verhandlungen und Implementierungen erfordern inzwischen einen gewaltigen Zeitaufwand und inhaltliche Abstimmungen bis zu einer Entscheidung.

Strategie ist das Bündeln aller Kräfte auf das Erreichen gemeinsamer Ziele.

Das Streben nach Autonomie ist die Natur der Strategie. Das Schlüsselproblem besteht nicht darin, reagierend zu antworten, sondern für die Menschen Initiative zu entwickeln und sich daran zu halten, bis eine Entscheidung erreicht wird.

Auch eine erfolgreich beschrittene Strategie ist kein Erfolgsgarant für alle Zeiten. Wenn man versucht, Führungsunfähigkeit durch das Erarbeiten von Strategien zu überdecken, so ist das so, als ob man einen schlechten Chirurgen mit schärferen Messern ausstattet. (Reiner Michel)

Die Kommissare sollten ihr Führungsverhalten durch Beachtung der Gesetze Murphys veredeln:

1. In jedem Bereich menschlicher Tätigkeit geht das schief, was schief gehen kann.
2. Bleiben die Dinge sich selbst überlassen, entwickeln sie sich immer zum Schlimmsten.
3. Besteht die Möglichkeit, daß verschiedene Dinge schief laufen können, dann läuft genau das schief, was den meisten Schaden anrichten wird.
4. Sieht es danach aus, als liefe alles gut, dann wurde offensichtlich etwas übersehen. Und:
5. Die Natur steht immer auf der Seite des verborgenen Fehlers.

Wolfgang Reineke, Heidelberg
Das komplette Manuskript kann hier als PDF heruntergeladen werden.

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