Macht der Bilder Eine Lektion in Macht und Eros
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- von Jost Listemann, Berlin
Das verwackelte Video bebt vor Lebensfreude und Sexappeal: Sanna Marin, finnische Ministerpräsidentin, tanzt aufgekratzt und unbeschwert auf einer privaten Party. Marin und alle anderen, die im Video zu sehen sind, interagieren mit der Kamera - sie wissen, dass sie gefilmt werden. Nur das dieses Video international viral gehen wird, wissen sie nicht.
Macht und Eros gehören seit jeher zusammen. Für Männer und Frauen gelten dabei aber sehr unterschiedliche Maßstäbe. Niemand würde die historische Rolle eines US-Präsidenten Kennedy bestreiten, obwohl der ständig seine Frau betrog. Helmut Schmidt präsentierte kurz nach dem Tod seiner Frau Loki dem staunenden Publikum seine langjährige Geliebte. Bill Clinton drohte nicht über seine Eskapaden im Oval Office zu fallen, sondern weil er Kongress und Öffentlichkeit darüber belog. Ganz zu schweigen von Donald Trump …
Machen wir uns nichts vor: Menschen, die herausragende Positionen anstreben und erreichen, sind von Geltungsbewusstsein, Eitelkeit und von dem Willen getrieben, über andere Menschen zu bestimmen. Und dazu gehört, den eigenen Auftritt für die eigenen Ziele einzusetzen.
Von Christian Lindner lernen
Männliche Selbstdarstellung hat sich in der digitalen Öffentlichkeit äußerlich grundlegend gewandelt. Nicht mehr der „Wohlstandsbauch“ eines Helmut Kohl symbolisiert Macht und Erfolg. In den Chefetagen und Kabinetten regieren heute asketische Flachbäuche. Mit 40 das zweite Mal zu heiraten ist keine Besonderheit, eher Grund für eine große Party in aller Öffentlichkeit. Aber Christian Lindner ist es gelungen, wirklich alle privaten Filmaufnahmen von seiner Sylt-Sause zu unterdrücken. Das ist per se nichts schlechtes. Auch Menschen in exponierten Positionen haben ein Recht auf Privatsphäre. Dort, wo Intimitäten und Eros unbeobachtet sind.
Und genau hier beginnt das Problem der Sanna Marin. Das virale Party-Video verletzt nicht nur ihre Privatsphäre, es bricht auch ein unausgesprochenes Gesetz: Eine Frau kann sich vor aller Augen erotisch inszenieren - ob im Club, auf dem Christopher Street Day oder im Trash-TV - aber sie darf nicht gleichzeitig mächtig sein wollen. Zum Nimbus der mächtigen Frau gehörte bisher ihre Asexualität. Hillary Clinton. Ursula von der Leyen. Angela Merkel.
Sanna Marin steht nicht dafür: Sie ist die Ministerpräsidentin Finnlands, die in einer historischen Situation weitreichende Entscheidungen trifft. Aber sie ist nicht asexuell und strahlt ein Selbstbewusstsein aus, das allen patriarchalen Erwartungen des Publikums zuwider läuft: Ich gehöre mir selbst. Du kannst mich nicht besitzen.
Dieses Selbstbewusstsein ist bei der finnischen Ministerpräsidentin nicht neu, warum also provoziert ein Tanzvideo jetzt dieses Aufsehen? Weil es die Attraktion einer doppelten Grenzverletzung in sich trägt: den Blick durch das Schlüsselloch einer prominenten Persönlichkeit und die erotische Selbstinszenierung einer mächtigen Frau. Beim Anschauen der verwackelten Bilder verbindet sich der wohligen Schauer des Voyeurismus mit moralischer Erregung. „Aah wie spannend! Ooh, wie kann sie nur!“ Wer auch immer das Video geteilt hat, wusste, dass es viral gehen würde!
Und Putin?
Die Entscheidung der Regierung Sanna Marins, der Nato beizutreten, ist nicht nur mutig angesichts einer über tausend Kilometer langen Grenze zu Russland. Finnlands geplanter NATO-Beitritt ist für Putin schon jetzt einer der größten geostrategischen Folgeschäden des Angriffskriegs auf die Ukraine: Zwölf Seemeilen vor Kaliningrad und St. Petersburg beginnen nun NATO-Gewässer. Alle Seewege ins westliche Russland - außer Murmansk - werden zukünftig von der NATO kontrolliert.
Damit steht Sanna Marin wahrscheinlich ganz oben auf Wladimir Putins Feindes-Liste.
Es ist müßig zu fragen, ob die Veröffentlichung des Videos eine russische Geheimdienst-Operation ist. Ja, es ist möglich und wahrscheinlich. Nein, wir werden nicht erfahren, ob es so war. Clausewitz, der preußische Militärwissenschaftler, nennt das den „Nebel des Krieges". Wir müssen uns an diesen Nebel gewöhnen, denn der Krieg um die Ukraine findet auch auf unserem Smartphone statt. Und die Macht der Bilder ist eine effektive Waffe.
Viel wichtiger ist die Frage, warum ein privates Feier-Video eine solche internationale Spur zieht? Muss eine Ministerpräsidentin, die weitreichende Entscheidungen verantwortet, im privaten Leben eine Asketin sein, um glaubwürdig zu sein? Wie bigott ist es, männlichen Lichtgestalten alle privaten Kapriolen zu verzeihen und sich gleichzeitig über dieses Tanz-Video zu „erregen“?
Erregung ist das erfolgreichste mediale Geschäftsmodell der Gegenwart, denn Erregung bringt Reichweite und Reichweite bringt Geld. Deshalb wird sich Sanna Marin in Zukunft ihre Partygäste genau anschauen. Sie wird darauf achten, ihre mediale Angriffsfläche zu verkleinern, um nicht öffentlich beschädigt zu werden. Sie wird misstrauischer, vorsichtiger und stromlinienförmiger agieren. Und dann wird sich das Publikum genau darüber aufregen.
Über den Autor: Jost Listemann ist Inhaber des Unternehmens Time:Code:Media GmbH in Berlin. Er berät große Unternehmen wie die Bayer AG und die Autobahn GmbH des Bundes und produziert für sie Bewegtbild-Kommunikation. Gestartet ist er als Politikwissenschaftler, seit dem Jahr 2000 ist er in der PR-Branche mit Schwerpunkt visuelle Kommunikation und Film tätig. An der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft unterrichtet er Storytelling und Bewegtbild.
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