Autoren-Beiträge European Affairs - Arbeitsplatz Brüssel

Ergebnisse einer Befragung von EU-Journalisten 2006. „Adequate Information Management in Europe (AIM) wurde vom Erich-Brost-Institut für Journalismus (ebi) im Jahre 2004 initiiert und hat mit Unterstützung der Europäischen Kommission innerhalb des 6. Rahmenprogramms (2002 - 2006) empirische Studien, Berichte und Materialsammlungen durchgeführt. Ziel des AIM-Projektes ist es, den Einfluß der Massenmedien auf die europäischen Öffentlichkeiten in empirischen, theoretischen und praktischen Diemensionen zu überprüfen. Am Projekt sind Forschungsinstitute in elf europäischen Mitgliedsländern beteiligt (Belgien, Estland, Finnland, Frankreich, Deutschland, Irland, Italien, Litauen, Norwegen, Rumänien und Großbritannien).

Das AIM-Forschungskonsortium hat in diesem Jahr das Arbeitspapier 3 (215 Seiten) mit den Ergebnissen der 2006 durchgeführten Interviews in englischer Sprache unter dem Titel „Understanding the Logic of EU-Reporting from Brussels“ herausgegeben. Die einzelnen Berichte stellen eine wertvolle Hilfe für Medienfachleute, Lobbyisten, PR-Spezialisten und PR- und Journalistennachwuchs auf einer empirischen Basis dar. So läßt sich das Nachrichtenmanagement durch Korrespondenten und Sprecher der EU-Institutionen in Brüssel besser verstehen und interpretieren.

Ausführlich wird die Frage beantwortet, wie Journalisten und Sprecher der EU EU-News produzieren und managen. Hintergrund und Unterschiede in den journalistischen Kulturen der EU-Staaten werden genauso sichtbar wie die wichtigsten Mechanismen der Tagesarbeit.

Die sehr detaillierten Befragungsergebnisse aus der Gemeinschaft der deutschen Journalisten waren für das pr-journal von besonderem Interesse: 167 deutsche Journalisten sind in Brüssel akkreditiert. Davon arbeiten 19 für sieben verschiedene Nachrichtenagenturen, 79 für 14 Außenstellen audio-visueller Medien, 63 Korrespondenten für 40 Printmedien, und vier Journalisten sind für den Deutschen Online-Dienst europa-digital.de tätig. AIM sprach im März/April 2006 in halbstrukturierten Tiefeninterviews mit ihnen darüber, wie sie ihre Arbeit in Brüssel organisieren und vor allem, wie sie die Informations- und Kommunikationspolitik der EU-Institutionen bewerten.

Problemfelder sind immer noch für viele Journalisten die tägliche Zusammenarbeit mit den Heimatredaktionen, die Tiefe, besser Untiefe, des Wissens über EU-Institutionen bei den Leserzielgruppen und bei der Prioritätensetzung in der Hauptredaktion. Der Lernprozeß ist sehr langsam, zu langsam, weil wichtige EU-Entscheidungen schon in großem Maße die Politikfelder in Deutschland beeinflussen. Einig sind sich die deutschen Journalisten darin, die speziellen EU-Begriffe der Institutionen in eine für die Leser verständliche Sprache zu übersetzen. Berichtet wird bevorzugt über Themen, die Zuschauer, Zuhörer und Leser in ihrer Lebensgestaltung, im Konsum- und im Finanzbereich erreichen. Hinzu kommen spezielle nationale Interessen, Persönlichkeiten und unterhaltsame Geschichten. An offiziellen und inoffiziellen Quellen in Kommission und Parlament ist in Brüssel kein Mangel. Ein wichtiger Faktor ist die Struktur der Kommissionsinformationen, im Mittelpunkt die täglichen Mittags-Briefings. Die ergiebigsten Informationen finden sich im Parlament als zweitwichtigster Quelle. Die Hälfte der befragten Journalisten nutzt regelmäßig Lobbyisten von Unternehmen, Wirtschafts-verbänden, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und anderen Interessengruppen beim Recherchieren von Hintergrundinformationen und Frühwarnsignalen über neue Entwicklungen und Situationsbewertungen. In der Beurteilung der Bemühungen der Kommission um Transparenz urteilen die deutschen Journalisten unterschiedlich. Das Weißbuch der Kommission wird mehrheitlich als ineffektiv, unangemessen oder sogar lächerlich beurteilt. Eine Stimme dazu: „Es hat nichts zu tun mit der Öffentlichkeit, es wirkt wie ‚wir erklären den dummen Menschen, was sie von der EU denken sollten’, der Ansatz ist komplett falsch.“

Insgesamt aber wird der Wille zur Transparenz in den Institutionen gelobt und Verständnis für die Arbeit der EU-Verantwortlichen gezeigt.

Vier Kritikpunkte wurden oft geäußert:
1. Versuche der Kommission, Pressekonferenzen und Pressemitteilungen zu Propagandaplattformen umzugestalten
2. die Informationsüberflutung
3. Fehlende politische Focussierung, z.B. werde bürokratischen Prozessen das gleiche Gewicht zugewiesen wie Entscheidungen von großer Tragweite
4. Informationen haben keine „nationalen“ Perspektiven

In Sachen Förderung der europäischen Integration ist das Pressecorps gespalten. Die eine Gruppe formuliert sehr klar, sie sei in Brüssel, um zu berichten und nicht um zu missionieren. Die andere Gruppe nimmt eine mehr aktive und erläuternde Haltung ein. Sie wollen sich gegen Stereotypen und Vorurteile einsetzen und die Vorteile der EU beschreiben.

Zusammenfassend geht aus den Interviews hervor, daß Brüssel einen ganz besonderen „News“-Charakter hat. Es ist geprägt von seinen eigenen Ritualen und einer eigenen Sprache, dem „Eurospeak“. Hinzu kommt Vielsprachigkeit, die Nähe von Politikern, Beamten, Lobbyisten und Journalisten. Die Befragten waren sich einig darin, daß es einige Zeit brauche, sich damit vertraut zu machen, wie die EU „ticke“. Um des großen Spektrums an Themen in angemessener Zeit Herr zu werden, haben die deutschen Korrespondenten ein enges Netz an direkt zugänglichen Quellen (Politiker, Sprecher) geknüpft und informelle Kontakte auch zu Kollegen aufgebaut, um zitieren und die Lage einschätzen zu können.

Brüssel als Nachrichtenort ist anders als andere Nachrichtenmetropolen. Charakteristisch ist zum einen das Europa-Viertel. In Brüssel gruppieren sich die Institutionen der EU rund um den ‚Rond-point Schumann’. Viele weitere Institutionen, Lobby-Gruppen und Journalisten haben ihre Büros in der Nachbarschaft. In dieser Gegend finden sich auch viele Gaststätten und Cafés, die von Politikern und Europabeamten genauso frequentiert werden wie von Journalisten und Lobbyisten.

Auf die Frage, ob es Meinungsführer im Kreise der Korrespondenten gebe, hieß es bei einigen „nein“, und andere meinten, es gebe wohl einige Medien, die über größeren Einfluß verfügten, die Tagesordnung zu bestimmen, darunter nationale überregionale Zeitungen wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung oder die Süddeutsche Zeitung und die öffentlich-rechtlichen ARD/ZDF.

Viele Journalisten ließen aber auch anklingen, daß der Financial Times eine Sonderrolle in Brüssel zukomme. Die europäische Ausgabe der in englischer Sprache herausgegebenen Financial Times werde in Brüssel von fast jedermann gelesen, vor allem von den Mitarbeitern der europäischen Institutionen. Einige Journalisten verwiesen darauf, daß die Financial Times deswegen auch von den EU-Institutionen genutzt werde, um bestimmte Themen auf die Nachrichtenagenda zu setzen.
          
Ursel und Wolfgang Reineke, Heidelberg

ISBN 978-3-89733-160-0
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