Autoren-Beiträge Prosit Neujahr auf die schöne, neue Kommunikations-Welt

Der Wirt blickt wortkarg durch die verschmierten Gläser seiner Brille, als er dem Gast das Glas Bier auf den Tresen stellt. Es ist der letzte Gast an diesem Abend, in diesem Jahr, in dieser Kneipe. Kaum ein Licht erhellt den Gastraum, eine Neonröhre flackert. Der Wirt und sein letzter Gast wissen: es ist aus, für immer, der Zapfhahn gibt widerwillig das letzte Bier heraus. Zum Abschied klingelt leise das Trinkgeld auf dem Tresen, Gast und Wirt schauen sich noch einmal an, die Hände erheben sich zum wortlosen Abschiedsgruß.

Dann steht der Gast auf der Straße, der Gehweg ist nass vom getauten Schnee der letzten Tage. Hinter ihm fällt die alte Eichentür ins Schloss, gehen die Lichter aus, krachen die Rollläden herunter. Hier, in dieser alten Eckkneipe wurde früher große Politik gemacht, Fußballsiege gefeiert und Abstiege betrauert. Hier wurden Verlobungen bekannt gegeben, Polterabende gefeiert und Trennungen begossen. Man kannte sich, man sprach mit einander, man erfuhr was los war im Viertel und in der Welt.

Noch vor wenigen Jahren gab es viele dieser verlängerten Wohnzimmer, wo man sich traf und austauschte, soziale Hotspots sozusagen. Jeder Stadtteil, jedes Viertel hatte mehrere davon. Um eine neue Sichtweise der Dinge zu bekommen, brauchte man manchmal nur ab und zu die Kneipe wechseln, einen anderen Kosmos betreten. Von Hotspot zu Hotspot hangelten sich die News, erreichten die Menschen, verbreiteten und entwickelten sich schnell. Der letzte davon hat gerade geschlossen, für immer.

Der Gast, der jetzt keiner mehr ist, schaut auf sein MCD (Mobile Communication Device) und liest die Statusmeldungen seiner Freunde bei TwitterBloggerCommunity und FaceLinkedXing-VZ. Er hat viele Freunde, überall auf der Welt, von denen er vieles weiß. Nur gesehen hat er sie noch nicht. Jetzt wird es aber Zeit: seine neuen Freunde sind schon alle im Network aktiv und das Feuerwerk ist dieses Jahr wieder per Livestream zu sehen. Als er das MCD wieder in die Tasche steckt, zeigt das Display oben rechts an:
31.12.2019 – 22:49 h.


Eine Flasche Sekt und etwas Knabberkram könnten nicht schaden. Also nimmt er für den Nachhauseweg noch einen Umweg in Kauf. Vorbei kommt er an Lokalen, wo früher an diesem Tag viel los war. Heute haben alle auf Lieferservice umgestellt, jedenfalls die, die es noch gibt. Hm, er hätte sich auch etwas bestellen können, zum Silvesterabend an des HBCS (Home based Communcation Station). Aber eine Flasche Sekt und etwas Knabberkram reichen aus, so machen es die anderen im Network doch auch.

Als er den Kiosk mit der Tüte in der Hand verlässt, blickt er auf das Bürogebäude gegenüber. Dort residiert MicroGooglehoo, die Internetbehörde des MfKMS (Ministerium für Kommunikations- und Meinungs-Sicherheit). In allen Bürofenstern brennt Licht - na klar, dass sie heute arbeiten, wie jeden Tag des Jahres. Was haben die Menschen damals gegen diese Behörde protestiert. Aber als man ihnen sagte, dass doch alles zum allgemeinen Nutzen sei und die Daten nur zum Zweck der Serviceverbesserung gespeichert würden, da war wieder Ruhe in der Stadt, im Land und überhaupt.

Auf dem Nachhauseweg kommt er an den ehemaligen Einzelhandelsgeschäften vorbei, deren Schaufenster heute als Werbeflächen dienen. Früher ging man selber dahin und schleppte seinen Kram auch noch nachhause. Heute, wo es edekaldi.com und ein paar andere gibt, da ist das viel bequemer. Und MicroGooglehoo wacht im Netz über das Wohl der Kunden. Naja, früher, da hatte auch fast jeder noch ein Auto, zumindest fast jeder Haushalt. Leise rauscht ein kaum besetzter IMSB (Induktions-Magnet-Schwebe-Bus) vorbei. Seit dem diese Dinger mit elektronischen Geräuschen ausgestattet sind, passieren weniger Unfälle mit Fußgängern. Diese wurden kurz nach der Einführung der IMSB reihenweise umgepflügt, weil man keine Fahrgeräusche hörte

Er hatte auch mal ein Auto, aber das Jahr der Veränderungen, 2010, hat es ihm genommen. Eingeführt wurde damals die schwarze Umweltplakette, die alle Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor bekamen. Die Umweltzonen wurden gleichzeitig auf das gesamte Bundesgebiet ausgeweitet. Und vom MfVE (Ministerium für Verbraucherentscheidungen) wurde die Abwrackprämie 2008/2009 in die Abwrackagenda 2010 umgewandelt. Ein paar Unverbesserliche genossen den Reiz der Illegalität und nutzen die freie Fahrt für freie Bürger zu ihrem Protest. Bis die Realität sie einholte: Renaturierung und Aufforstung von Autobahnen und Landstrassen. Außerdem wurden Tunnel und Unterführungen dringend für die Errichtung von CO2-Lagerstätten benötigt

Überhaupt 2009: Das war das Jahr, indem man lernte, dass Virtual Social Networking das Nonplusultra ist. Die Rahmenbedingungen hatten uns ja quasi dahin getrieben: Klimakatastrophe, keiner wollte mehr Auto fahren. Wirtschaftskrise, kein Geld mehr für nichts. Schweingrippepandemie, bloß zuhause bleiben. Und dann noch Bundeswehrgemetzel in Afghanistan. Die ganze Welt kam grenzenlos und multimedial per Knopfdruck und Superduper-DSL ins Wohnzimmer, der ganze Globus auf 22 Zoll. Warum sich mit Freunden treffen, wenn man sie sich virtuell nachhause holen konnte?

Die Anzeichen dazu gab es ja schon viel früher: Zu den Ausfahrten mit dem Cabrio-Club kamen immer weniger, statt dessen tauschte man Videos bei youchannel aus. Die Skatbrüder sahen sich immer seltener, spielten statt dessen lieber Online-Poker. Die Briefmarken-Freunde blieben zuhause und tauschten ihre Sammlungen und besten Stücke per hoch auflösendem Web-Album aus. Das Laienorchester probte und spielte per Online-Dubbing und die Mal- und Bastel-Gruppe hatte auf CAD umgestellt. Seminare wurden zu Webinars und Unterhaltungen wurden zu Webcam-Chats.

Bald ging auch niemand mehr zum Fußballverein, sondern tauschte seinen Score beim Online-Soccer im entsprechenden Web-Forum aus. Statt ins Fußballstadion zu gehen, holte man sich die Spiele per Livestream auf den Bildschirm, mit 36 Kamerapositionen und parallel geschaltetem Diskussionsforum. Die Fußball-WM 2014 in Brasilien kam multimedial aus dem damals neu errichteten und größten Greenscreen-Studio der Welt.  2015 ernannte die UNESCO die restaurierten Kulturdenkmäler der verbliebenen 23 deutschen Sportarenen zum Weltkulturerbe.

Auf dem Weg ist ihm jetzt kalt geworden, sodass er den Chipstick nicht sogleich in den DLPI (Door Lock Plug In) bekommt. Die Tür öffnet sich, das Licht geht automatisch an und die synthetische weibliche Stimme heißt ihn viersprachig willkommen. Auf den Bildschirmen steht, dass 23 neue Nachrichten da sind. Sekt in den Kühlschrank, Knabberkram auf den Tisch und schnell noch eine Ultraschall-Dusche nehmen, bevor die Web-Party los geht. Zum Glück hat er mit dem MCD die Induktions-Heizung bereits eingeschaltet

Username, Passwort eingeben und Fingerabdruck scannen und schon grüßt pandabaerli69muc im Messenger: gr-swunic? (Guten Rutsch – sehen wir uns nachher im Chat?). mephisto_kr schreibt: dffa! (Das Feuerwerk fängt an!). Ja, das sieht er im Webcast jetzt auch. Aber warum nicht im Fenster? Na klar: mal wieder ist der USB-Stecker draußen. Schnell rein mit dem Ding und schon wird das Silvesterfeuerwerk 2019/2020 dreidimensional auf das Wohnzimmerfenster projeziert, synchron zum Webcast und das alles mit 10.5 Full-HD-Mega-Surroundsound.

Prost Neujahr!
-sdh-

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