Kommentare Gerücht: Schuldig im Sinne des Leitartikels

schulz-bruhdoel norbert-58(nsb) Dominique Strauss-Kahn hat seine Karriere hinter sich, das ist gewiss. Ob er tatsächlich eine Frau angegriffen hat, müssen die Richter noch feststellen. Aber immer mehr Schreiber und Kommentatoren bringen das durcheinander. Die Mehrheit der Franzosen ist sicher, dass „DSK“ in eine Falle getappt ist – sie rätseln, wer sie aufgestellt hat. Die Amerikaner, um den eigenwilligen Chef des IWF loszuwerden? Sarkozy, der seinen gefährlichsten Mitbewerber um das Amt des französischen Staatspräsidenten kalt stellen lässt? Oder die Feinde von Strauss-Kahn in der eigenen sozialistischen Partei, die dem Großbürger und Bonvivant seinen Erfolg neiden?

Hier in Deutschland haben die Journalisten sich entschieden, solche „Verschwörungstheorien“ für absurd zu halten. Sie finden es weniger absurd, dass sich gleich ein halbes Dutzend Frauen zu Wort melden, die schon vor Jahren von Strauss-Kahn vergewaltigt worden sein wollen, aber nie eine Anklage angestrebt haben. Sie erinnern gerne daran, dass dem IWF-Chef schon einmal der Rausschmiss drohte, weil er eine Affäre mit einer Untergebenen hatte. Und sie bringen auch hier etwas durcheinander, nämlich außerehelichen Sex und sexuelle Gewalt; eine Alltäglichkeit und ein Verbrechen.

Die würderaubende öffentliche Vorführung durch die amerikanische Justiz und der Rücktritt Strauss-Kahns tun ihre Wirkung: Fall ist klar, Recherche lohnt nicht, wenden wir uns anderen Themen zu.

Könnte es nicht sein, dass die beiden Zerrbilder – unkontrollierbares Raubtier hier, Opfer einer Verleumdung dort – durchaus miteinander in Übereinstimmung gebracht werden könnten? Eine Hypothese: Strauss-Kahn hat sich bekanntlich nicht zum ersten Mal im Sofitel-Hotel aufgehalten und dort Call-Girls empfangen. Hat er – wie viele Männer – eine Vorliebe für Rollenspiele? Hat er schon mal ein Call-Girl in die Rolle eines Dienstmädchens schlüpfen lassen, das er überraschen und vernaschen kann? Wer ihm schaden wollte und DSKs unkontrollierten Sexualtrieb einschätzen konnte, musste nur die bestellte Prostituierte abfangen und das ahnungslose Zimmermädchen seine Arbeit tun lassen. Strauss-Kahn wäre über seine Hemmungslosigkeit gestolpert und dennoch das Opfer einer üblen Fallenstellerei.

Reine Spekulation, natürlich – aber absurd ist das nicht. Ob so etwas oder etwas ähnliches ans Licht käme, ist aber abhängig davon, dass jemand solchen Spekulationen nachgeht. Die New Yorker Staatsanwälte werden es nicht tun, denn sie ermitteln nach amerikanischem Recht nur gegen den Beschuldigten. Welch eine Chance für Journalisten, sich durch die Aufklärung einer zeitgenössischen „Dreyfus“-Affaire unsterblich zu machen – oder die Hypothese in die Tonne zu treten, wenn die Recherchen keinerlei Hinweise ergeben.

Aber es ist je viel einfacher, wilde Spekulationen über Strauss-Kahns Nachfolge zu formulieren. Dafür muss man den Hintern nicht einmal aus dem Sessel heben.  

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