Macht der Bilder Retourkutsche

1806 war es soweit: Kaum zehn Jahre nach seiner Fertigstellung wurde das Brandenburger Tor zum ersten Mal mutwillig beschädigt – von Napoleon. Acht Jahre später musste der geschlagene Kaiser die gestohlene Quadriga zurückgeben: Retourkutsche nannten die Berliner das. Die (reparierte) Quadriga wurde zum Symbol des Sieges – und das Brandenburger Tor zum erst Mal berühmt. Danach haben Kaiser, Könige, Präsidenten, Revolutionäre, Nazis, Rotarmisten und die Grenzer der DDR versucht, ihre Spuren am Tor zu hinterlassen.

Das Brandenburger Tor war erneut Ziel von Attacken, doch zu mehr als einer symbolischen Beschmutzung reichte es nicht. (Quelle: Google, 17.9.2023, 21:00 Uhr)

Die meisten historischen Kratzer sind nur noch als Verfärbung im Sandstein zu ahnen. Schließlich bemächtigten sich die Berliner in einer nasskalten Novembernacht des Ortes und das Bild vom Brandenburger Tor ging um die Welt und blieb in den Köpfen.

Jetzt ist das Tor wieder mutwillig beschädigt worden, wieder wähnt man sich auf einer gerechten Mission. Aber die orangen Farbfontänen auf den Säulen sind an visueller Banalität nicht zu überbieten. Zu mehr als einer symbolischen Beschmutzung reicht es nicht. Mediale Bilderflut ohne Ende – politische Botschaften nicht mehr erkennbar.

Konkurrenz belebt das Geschäft

Das Timing ist klug gewählt: An einem Sonntagnachmittag gleicht der Pariser Platz einem Touri-Happening. Keine Wagenkolonnen künden von Staatsgästen, die Security vor den Botschaften gähnt. Sich dem Tor zu nähern, ist kein Problem, stehen doch Tausende täglich vor den Sandsteinsäulen. Die Deutschen warten auf Tagesschau, Tatort, Anne Will und seufzen über ein zu kurzes Wochenende.

Der perfekte Moment für eine nationale Provokation, fotografiert von Hunderten von Handys, vervielfältigt von allen Hauptstadt-Medien. Eine Bundesministerin (und Wahlkämpferin) meldet sich sofort, die Kommentarspalten der Social-Media-Plattformen quillen über. „Verprügeln!“ „Einsperren!“ „Verhaften!“ gehören noch zu den harmloseren Formulierungen. Farbe auf Sandstein – das ist alles und doch so viel mehr!

Das Bild des orange beklecksten Brandenburger Tors ist eine Botschaft an die politische Konkurrenz: Freitag fand auf der anderen Seite des Brandenburger Tores die Abschlusskundgebung des Klimastreiks der „Fridays for Future“-Bewegung statt. Einige Tausend Menschen hatten sich friedlich versammelt, die mediale Berichterstattung eher pflichtschuldig. Neuigkeitswert? Gegen null.

Da weiß die „Letzte Generation“ nur wenige Meter entfernt und 48 Stunden später ganz andere Bilder zu inszenieren: Vom “besudelten Nationalsymbol“ ist die Rede, mediales Aufschäumen unterlegt den Bilderstrom, der sich über alle Kanäle ergießt. Aber es ist auch ein ausgestreckter politischer Mittelfinger an die Konkurrenz: Hey „Fridays“, so macht man das! So erzeugt man Aufmerksamkeit zwischen Krieg, Heizungsstreit und der Suche nach einem Bundestrainer. Das Bild trifft – allein es fehlt die Botschaft. Orange ist in Berlin eigentlich die Stadtreinigung.

Über den Autor: Jost Listemann ist Inhaber der Videoproduktionsfirma Time:Code:Media GmbH in Berlin. Er berät globale Unternehmen und öffentliche Institutionen in ihrer visuellen Kommunikation. Gestartet als Politikwissenschaftler ist er seit 2000 in der PR-Branche als Filmproduzent tätig. An der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft leitet er die Ausbildung für visuelles Storytelling und Bewegtbild.

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