Rezensionen Luhmann: Die Realität der Massenmedien

Niklas Luhmann: "Die Realität der Massenmedien“. VS Verlag, Wiesbaden, 4. Auflage, Okt. 2009, 151 Seiten. Preis:  19,90 Euro. ISBN: 978-3-531-16666-7.
Rezension von Sebastian Wuwer, Referent für die Europa-Kommunikation im Landtag Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. Absolvent von PR Plus (www.prplus.de).

 In der Ausgabe 50/2009 wagte das Magazin der Süddeutschen Zeitung ein kühnes Experiment. Es versuchte, die Medienkarrieren nachrichtlicher Themen in Organigrammen darzustellen und so den „Lauf der Geschichten“ auf einen Blick zu erfassen. Im Mittelpunkt standen dabei die Fragen, welche Medien zu welchem Zeitpunkt über welche Aspekte zu einem bestimmten Thema berichtet und auf welche anderen medialen Quellen sie sich dabei bezogen hatten.

Beispielsweise zeigte das Magazin anhand der Kundus-Affäre auf, wie sich die massenmediale Berichterstattung zum Luftangriff der Bundeswehr in Afghanistan über Tage und Wochen selbst verstärkte und gegenseitig motivierte. Von ersten, kurzen Agenturmeldungen bereits wenige Stunden nach dem Luftangriff weitete sich die Berichterstattung schon bald auf die deutsche und internationale Medienlandschaft aus – um danach fast täglich durch neue Meldungen zusätzliche Resonanz weiterer Massenmedien auf sich zu ziehen und das Thema schließlich an die Spitze der massenmedialen und der politischen Agenda zu schieben.

Diesen Prozess der massenmedialen Selbstverstärkung von Nachrichten und der medialen Konstruktion von Realität nimmt auch Niklas Luhmann in den Fokus seiner systemtheoretischen Analyse. Bereits in der vierten Auflage erscheint seine Abhandlung „Die Realität der Massenmedien“, die seit ihrer Erstveröffentlichung im Jahr 1996 zu einem Standardwerk in der soziologischen und medienwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der massenmedialen Produktion und Distribution von Nachrichten geworden ist und weit über den wissenschaftlichen Diskurs hinaus öffentliche Aufmerksamkeit fand. Schon damals wunderten sich Kritiker wie der Publizist Richard David Precht darüber, dass sich ein derart „kompliziertes Theoriebuch“ zum Kassenerfolg habe mausern können.

Denn die systemtheoretischen Ausführungen Luhmanns zu Nachrichten, Werbung und Unterhaltung sind alles andere als leichte Kost und erfordern von ihren Leserinnen und Lesern ein hohes Maß an Bereitschaft, sich detailliert und dezidiert mit den analytischen Annahmen der konstruktivistischen Systemtheorie vertraut zu machen. Wer allerdings diese Mühe aufbringt und sich die Thesen Luhmanns kritisch zu Gemüte führt, dem erschließt sich rasch eine höchst reizvolle, da erfrischend andersartige Sichtweise auf das Wirken der Massenmedien, ihr selbstreflexives Realitätsverständnis und auf die daran gekoppelte Konstruktion von Medienrealität.

Laut Luhmann gilt: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir über die Massenmedien.“ Ausgehend von dieser These beschreibt er kritisch – hier grob zusammengefasst – wie Massenmedien nicht über eine neutrale, also objektiv existierende Realität berichten, sondern diese „Realität“ vielmehr durch ihre Berichterstattung erst konstituieren. Diese Erkenntnis ist es auch, die dem Buch auch in seiner vierten Auflage Aktualität garantiert und dabei helfen kann, persönlich einen kritisch-distanzierten Blick auf die Berichterstattung der Massenmedien zu wahren und diesen weiter zu schärfen.

Schade nur, dass der 1998 verstorbene Luhmann das Aufkommen der Web 2.0-Generation und der neuen Medienkommunikation in der Online-Welt nicht mehr miterleben durfte. Allzu gerne hätten wir erfahren, wie Luhmann die in zunehmendem Maße personalisierte Realitätskonstruktion über Twitter, Facebook und Co. weit über die massenmediale Berichterstattung hinaus systemtheoretisch bewertet und in sein bestehendes Konstrukt der Medienrealität eingebettet hätte. So dagegen bietet das Werk jedem Leser eine gute Grundlage für eine weitergehende, eigenständige Auseinandersetzung mit dem persönlichen Verständnis und der gesellschaftlichen Bedeutung von Massenmedien in unserer heutigen Zeit. Weder bei der Lektüre noch bei der anschließenden Beschäftigung mit Luhmanns Thesen darf jedoch vergessen werden: Wie wir persönlich die Realität erfahren und möglicherweise die Aussagen des Buchs auf diese Erfahrungen beziehen, ist wiederum nur ein Produkt einer konstruierten Realitätswahrnehmung. Und eben auf diese Realitätswahrnehmung haben Massenmedien nach wie vor entscheidenden Einfluss.

Fazit: Auch in der vierten Auflage bietet Luhmanns Werk eine hervorragende Grundlage für eine kritische Auseinandersetzung mit der Realitätskonstruktion der Massenmedien. Bedingung hierfür ist eine zunächst generelle Beschäftigung mit den wesentlichen Thesen der konstruktivistischen Systemtheorie. Dies erfordert Zeit und Geduld. Diese Mühe jedoch lohnt sich, denn umso wertvoller geraten die persönlichen Erkenntnisse zum Mediensystem, die sich aus der (zu empfehlenden mehrmaligen) Lektüre des Buchs ergeben.

Der Rezensent:
Sebastian Wuwer ist Angestellter im Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Landtags Nordrhein-Westfalen und dort als Referent für die Europa-Kommunikation tätig. Zuvor studierte Wuwer im Bachelor- und Masterstudiengang Politik- und Medienwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum, war erster PR-Trainee in der Verwaltung des nordrhein-westfälischen Landesparlaments und konnte sein berufsbegleitendes Studium bei PR PLUS im März 2009 als akademisch geprüfter PR-Berater abschließen. Er war außerdem als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Deutschen Bundestag sowie als freier Journalist für die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) tätig.

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