Branche Krisen-PR: Kommunizieren hilft Schaden begrenzen

50. MedienMittwoch am 08. Februar in Frankfurt: Situationen – Schlagzeilen – Szenarien

Krisen finden in den Köpfen der Beteiligten statt. Wenn das nicht der Fall ist, geraten "Krisen" zum Alltag der Normalität. Was ist heute im allgemeinen Zeitgeist und durch zahlreiche "Pisa"-Studien denn noch krisenfrei?

Die Veranstalter hätten das Thema, den Zeitpunkt und die Gesprächsteilnehmer nicht besser wählen können:

Der Moderator Hartwin Möhrle, Geschäftsführender Gesellschafter der Kommunikationsagentur Ahrens & Bimboese (GPRA), stellte in professioneller Kürze Fragen zum Einblick in die Praxis an das Expertenteam:
-   Martin Riecken, Vice President Corporate Communications, LSG Lufthansa Service Holding AG
- Constanze Buckow, Leiterin der Infraserv-Unternehmenskommunikation
- Roland Tichy, Publizist und Politik-Berater
- Dr. Shlomo Shpiro, Experte für Terrorismus und Kommunikation.

In einem völlig überfüllten Saal der Berger Kinos (das Ordnungsamt hätte wegen der Fluchtwege eine Krise gesehen…) lauschte ein vor allem jugendliches Publikum aus der Frankfurter PR-Szene ihren analytischen und taktischen Hinweisen zur Kommunikation in Krisen. Riecken zeigte an Beispielen aus der internationalen Luftfahrt, daß Krisenkommunikation nicht "Verdecken – Beschwichtigen – Abwiegeln" heißen könne. Transparenz beginnt schon in der Krisenprävention. "Krisenkommunikation ist wie eine Fremdsprache. Wenn man sie nicht regelmäßig benutzt, verlernt man sie". Das Sprechen über Konzepte und das Trainieren von Prozessen und Tools für den Fall der Fälle sei sehr wichtig. Die Stationsleiter der Lufthansa sind besonders darauf trainiert, im Gespräch mit Betroffenen auch den richtigen Ton zu treffen (Anmerkung des Berichterstatters: Wie schön wäre es, wenn das auch für Ärzte und Pflegepersonal deutscher Kliniken möglich wäre…)

Constanze Buckow führte das Thema auf den handwerklichen Ansatz der Bewältigung kleiner und mittlerer Krisen zurück, die von Kunden und Agenturen gemeistert werden müssen. Sie plädierte denn auch für eine "Entzauberung der Krisenkommunikation" und sprach für den Einsatz "klassischen" professionellen Handwerkszeugs und das Training dieser Werkzeuge ("üben – üben – üben"). Im Industriepark auf dem Gelände des früheren Hoechst-Konzerns arbeitet die Infraserve-Unternehmenskommunikation für 80 Firmen mit 20000 Mitarbeitern in 800 Gebäuden. Bei so zahlreichen Möglichkeiten für Störfälle sei eine ausgeprägte Notfallorganisation mit dem Prinzip Schnelligkeit lebenswichtig. In der Präventionsphase müßten für die interne wie die externe Kommunikation langfristige Kontakte geschaffen werden. Textbausteine und Manuals als Informationsgrundlagen beim Training seien hilfreich. Dasselbe gelte für das rechtzeitige Erkennen von Situationen und Themen ("If you don't manage issues, issues will manage you!") Krisenkommunikation sei immer ein inneres Abbild des Unternehmens. Bei der allgemeinen Skepsis gegenüber der Chemie in der Wahrnehmung durch Umfeld und Bevölkerung sei ein Störfall immer das, was die Öffentlichkeit für einen Störfall hält. Mensch, Umwelt und Gesundheit stehen im Mittelpunkt. In der Krise müssen zuerst Toxikologen, Feuerwehrmänner und Mediziner aktiv werden. Bei der Information kann es nur um belastbare Informationen gehen. Es gilt: Schnelligkeit in der Bewältigung des Störfalls vor Vollständigkeit der Information an Presse und Bürger.

Provokativ formulierte Tichy: "Krise ist ein mediales Konstrukt." "Die Krise sind die Journalisten, die darüber schreiben." "Krisenkommunikation läßt sich nicht steuern." An Beispielen erläuterte er die Echtzeitnähe von Journalisten (der Anschlag auf die Diskothek in Berlin sei beispielsweise unmittelbar danach durch die Medien gegangen, der Bericht des Staatsschutzes habe den politischen Entscheidungsträgern erst 48 Stunden später vorgelegen). Nach dem Einsturz des Daches der Eishalle in Bad Reichenhall seien innerhalb von zwei Stunden 20 Bild- und Presseteams dort erschienen. Handy-Fotos von Augenzeugen gingen unmittelbar danach um die Welt. Schon kleine Anlässe oder Auslöser könnten bei Skandalisierung durch die Medien zu einer Dauerkrise wie bei dem bekannten Schwanheimer Vorfall für die Hoechst AG werden. Ein in Eigen-PR begabter heimischer Politiker (Joschka Fischer) traf mit dem Thema Umweltschutz in der Kommunikation auf eine autoritäre und nicht wirklich sofort informationsbereite Unternehmensführung von Chemikern (Anm.: an der Spitze Prof. Hilger). "Fachleute mögen keine Krisen."

Shlomo Shpiro, ein international anerkannter und nicht im Zeittrend selbsternannter Experte für Terrorismus konnte in der knappen Zeit nur wenige Ergebnisse seiner aktuellen Studien zu Terrorismus in all seinen Erscheinungsformen und Kommunikationsbemühungen der betroffenen Menschen und Organisationen vermitteln:

1. Die Mehrzahl der großen und mittleren Unternehmen ist auf Terroranschläge und den Umgang mit der Folgekommunikation nicht vorbereitet (das gelte auch für die Polizei und die Landeskriminalämter).

2. Die Terrorangriffe sind für die Medien "Breaking News". Während über Busunglücke mit zwanzig Toten oft erst auf den nachfolgenden Seiten und später in der Sendung berichtet wird, ist ein Terroranschlag (Bomben und Entführungen) bei zwei Toten eine Nachricht für die erste Seite.

3. Die Reaktionszeit der Öffentlichkeiten ist in Minuten und nicht in Stunden zu messen. Es kann mit 400 bis 1000 Anfragen der Medien in den ersten Stunden gerechnet werden. Das Resultat ist oft totale Überforderung.

4. Situationswechsel: Die Unternehmen sind bei Terrorangriffen Opfer, nicht Täter wie bei Umweltstörfällen oder Lebensmittelverschmutzungen.

5. Neue Medien schalten sich sofort ein, z.B. CNN, NBC, Internet, Weblogs.

6. Die Mitarbeiter müssen vorbereitet sein.

7. Szenarien mit realistischen Situationsdarstellungen können (müssen) zur Vorbereitung auf Ernstfälle dienen.

Alles in allem: ein lehrreiches Gespräch bei m² MedienMittwoch, das zu angeregter Diskussion und Weiterführung aufrief. Dem Berichterstatter fielen aus seinen persönlichen Erfahrungen in der Krisenkommunikation spontan drei Hinweise ein:

1. Das Krisenbewältigungsteam muß im Ernstfall ein außerordentliches Projektteam mit einem Entscheider und Sprecher sein (Modell Flight Director bei der NASA). Der normale Ablauf der Unternehmens- und der Organisationsprozesse darf nicht gestört werden.

2. In das Team gehören interne wie externe Spezialisten, die langfristig durch Aufgabenzuweisungen und Übungen ohne hierarchische Barrieren oder Mitspracheforderungen vorbereitet werden.

3. Die Öffentlichkeiten werden am besten durch schriftliche Informationen und im Bild durch einen Sprecher informiert.
Blicke in den "War Room", auf die Ausstattung und erkennbare Personen sind nicht nur sinnlos, sondern im Fall eines Terrorangriffs auch gefährlich.

Wolfgang Reineke, Heidelberg

 

Wichtiger Hinweis:
Vom 7. – 8. April 2006 findet an der Technischen Universität Ilmenau ein
KRISENKOMMUNIKATIONSKONGRESS als erster studentischer Kongreß mit hochkarätigen Referenten zum Thema statt. Schirmherr: Hans-Olaf Henkel
Anmeldung und weitere Informationen: www.krisenkommunikationskongress.de

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