Kommentare Wladimir Putin und die ARD Tagesschau - erst Interview, dann Zensur?

Was für eine Glücksgriff für einen gestandenen und erfahrenen Journalisten, dazu noch aus dem Westen: Russlands Machthaber Nummer eins gestattet überraschend ein langes Interview. So geschehen am Freitag 29. August, als der Leiter des Moskauer ARD-Studios Thomas Roth die Gelegenheit bekam, in einem Hotel an der Schwarzmeerküste der russischen Stadt Sotschi Wladimir Putin zu interviewen. Kein Script, keine Absprachen, eine Stunde für ein Interview ohne jede Themenbeschränkung. Daraus entstanden ca. 30 Minuten sendefähiges Material.

Was dann im Anschluss an die Tagesthemen zu sehen war, war enttäuschend: Zusammengeschnitten auf ca. 10 Minuten fehlten weite Teile dieses Interviews. Durch unglückliche Schnitte veränderten sich Zusammenhänge von Fragen und Antworten, viele Passagen wurden ganz entfernt. Ein wirklich interessantes, wenn nicht sogar wichtiges Zeitdokument wurde verstümmelt gesendet, wer hat sich wohl was dabei gedacht? Sicherlich: Sendepläne und die Gegebenheiten des Alltags von TV-Machern und Journalisten unterliegen bestimmten Zwängen, die Interessenkonflikte hervorrufen. Aber mit etwas Geschick und Medienverständnis hätte die ARD dem begegnen können: 10 Minuten im TV und „...den vollständigen Beitrag finden Sie auf unserer Homepage“. Die schöne, bunte, mehrdimensionale Multi-Media-Welt macht es möglich, ausgerechnet am Freitag nicht, da gab es nur einen eindimensionalen Kommunikationskanal: „Das Erste“.

„Zensur“, schreit die medial geschärfte Internet-Gemeinde, Blogs laufen auf Hochtouren, es wird geschrieben und gezetert, was das Zeug hält. Da wird Art. 5 Absatz 1 Grundgesetz zitiert, von Manipulation, Fälschung, Blendung, Heuchelei, Machenschaften, Anti-Russland-Kampagne, Missachtung jeder Moral und einseitiger und negativer Berichterstattung geschrieben, was die Tastatur hergibt. Otto Normalbürger kann mal so richtig schön Medienkritiker spielen. Roth wird zum schlimmsten kalten Krieger im Fernsehen ernannt, mit vorgefasster Meinung, scheinheilig, verantwortungslos, unglaubwürdig. Natürlich sind auch die  Verschwörungstheoretiker sofort zur Stelle: Alles von den USA manipuliert, ARD, Roth, Tagesthemen vom CIA unterwandert und ferngesteuert, das deutsche Fernsehen als Handlanger auf dem Weg zur US-Weltherrschaft und überhaupt wurde das World-Trade-Center vom US-Geheimdienst gesprengt. Falsche USA-Flaggen in der Tagesschau? Alles Ablenkung, Staub in den Augen und Lungen der Kritiker. Thomas Roth gilt als designierter Leiter des ARD-Studios in New York (voraussichtlich schon 2009) und die bloggenden Medienwächter sehen in dem, aus Ihrer Sicht "zurechtgebogenen", Interview seinen vorgezogenen, jobsichernden Einstand bei den Amerikanern.

So kann es gehen, wenn mit sensiblem Material nicht sensibel genug umgegangen wird: schnell geschnitten, hastig auf den Äther geschickt, Multimedia-Optionen vernachlässigt. Dann kommt ein Flickenteppich von Nachbesserungen, erst der Wortlaut des (geschnittenen) Interviews, dann eine hastig nachgeschobene Erklärung und endlich,Tage später, das ganze Interview in voller Länge. Damit ist der Wind aus den Segeln der Zensurphobiker  genommen, aber spät, sehr spät. Das hätte nicht sein müssen, ein geschickteres Medienmanagement darf man von der größten deutschen Sendeanstalt erwarten, insbesondere als Gebührenzahler.

Was bleibt, ist der Wunsch, dass dieser Vorfall die Sinne der (ARD)Verantwortlichen für brisantes Material geschärft hat und dass die GEZ-Einnahmen zukünftig mehr guten Journalismus, statt mediale Fettnäpfchen finanzieren.  sdh

 

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