Autoren-Beiträge Kritik und Ideen zur Brüsseler Öffentlichkeitsarbeit: Europäische Themenfelder in Bürgernutzen übersetzen

„Stetigkeit, Stetigkeit, Stetigkeit!“ (Konrad Adenauer)
Brüsseler Kommunikationsstrategie ohne Personenkult und Halleluja. Europa ist bereits der Alltag, der sich aber nicht immer in der Kommunikation der Kommission widerspiegelt und trotz hoher Aufwendungen für Techniken und zahllose Inhalte bei der Mehrheit der Bürger nicht angekommen ist. Eine wissenschaftliche Definition von Politik in Form einer Pyramide führt von der Vision über die Grundsatzpolitik (polity) der Grundsätze und Gebote zum Handlungsprogramm der Umsetzung (policy-making) und zu den situations-gebundenen Taktiken und Techniken (politics) bei Problemlösungen mit Nutzen und/oder Nichtnutzen im Alltag. Konkrete Strategien und Zeitvorgaben sowie Tages- und Themenpolitik haben Europa in funktionalen „Ansätzen“ vorangebracht und Verfassungs-, Generalvertrags- oder Reformvertragsdenken zunächst als zweitrangig erscheinen lassen. Die dramatische und gelungene Einführung des Euro, die außen- und sicherheitspolitischen Engagements an zahlreichen Brennpunkten weltpolitischer Verantwortung und nicht zuletzt die Umweltpolitik bestätigen den Fortschritt Europas. Ein Flickenteppich sinnvoller Maßnahmen (patchwork) könnte in einem europäischen Kommunikationsprozess in einer Gesamtschau fortgeführt werden.

Das gelebte und erlebte Europa der Bürger hat längst begonnen, und die Medien tragen dazu bei, dies innerhalb und außerhalb von Brüssel und Straßburg immer mehr im Detail weiterzugeben. Eine von der Kommission unterstützte empirische Studie hat das eindrucksvoll bestätigt.

„Adäquate Information Management in Europe" (AIM) wurde vom Erich-Brost Institut für Journalismus (ebi) im Jahre 2004 initiiert und hat mit Unterstützung der Europäischen Kommission innerhalb des 6. Rahmenprogramms (2002 – 2006) empirische Studien, Berichte und Materialsammlungen durchgeführt. Ziel des AIM-Projekts war es, den Einfluss der Massenmedien auf die europäischen Öffentlichkeiten in empirischen, theoretischen und praktischen Dimensionen zu überprüfen. Am Projekt waren Forschungsinstitute in elf europäischen Mitgliedsländern beteiligt: Belgien, Estland Finnland, Frankreich, Deutschland, Irland, Italien, Litauen, Norwegen, Rumänien und Großbritannien (info@brost.org).

Ergebnis u. a.: Brüssel ist geprägt von seinen eigenen Ritualen und einer eigenen Sprache, dem „Eurospeak“. Hinzu kommen Vielsprachigkeit und die Nähe von Politikern, Beamten, Lobbyisten und Journalisten. Die Befragten waren sich einig darin, dass es einige Zeit brauche, sich damit vertraut zu machen, wie die EU „ticke“.

Um des großen Spektrums in angemessener Zeit Herr zu werden, haben sich z. B. die Korrespondenten ein enges Netz an direkt zugänglichen Stellen (Politiker, Sprecher) geknüpft und informelle Kontakte auch zu Kollegen aufgebaut, um zitieren und die Lage einschätzen zu können. Insgesamt wurde schon der Wille zur Transparenz in den Institutionen gelobt und Verständnis für die Arbeit der EU-Verantwortlichen gezeigt. Kritikpunkte waren die Informationsüberflutung und fehlende politische Fokussierung. Beispielsweise werde bürokratischen Prozessen das gleiche Gewicht zugewiesen wie Entscheidungen von großer Tragweite. Außerdem: Informationen haben keine „nationalen“ Perspektiven. Daran hat sich bei der Umsetzung der hehren Ziele z. B. der Kommission nicht viel geändert. Die Gefahr des Abgleitens in konzeptionsloses Bruchstückdenken wäre gegeben, würde der Prozess permanenter Kommunikation in Panik oder Ungeduld aufgegeben.

Für den Zeitfaktor der praktischen Umsetzung nationaler Interessen, Interaktionen und Verhandlungspositionen gilt die Formel (n + 1) mal n = Gesamtheit der Transaktionen. Also: Das Europa der 6 heißt (6 + 1) mal 6 = 42 Transaktionen, im Europa der 27 sind es (27 + 1) mal 27 = 756 Transaktionen. Vorbereitungen, Verhandlungen und Implementierungen erfordern also heute und morgen einen gewaltigen Zeitaufwand.

Was können zentrale Themen von Interesse für die zahlreichen „EU-Bürgerschaften“ sein?

-  Staatlich-politische Grenzen und Möglichkeiten des Lissabon-Vertrages  zur Reform der Europäischen Union
-  Sicherheit als Machtfaktor
-  Transparenz Brüsseler Handelns

Europa ist bereits der politische Alltag. Es wird aber trotz hoher Aufwendungen für Techniken und Inhalte von der Mehrheit der Bürger nicht angenommen oder ist bei ihnen nicht angekommen. Die Vielzahl der Einflüsse wird trotz der Berieselung von Millionen nicht durch mehr Reputation honoriert. Streit über den Euro, die Hilfsprogramme für Banken und Hölzchen-und-Stöckchen-Auslassungen auf allen Tätigkeitsebenen führen zu einer Überflutung der Bürger insgesamt ohne tatsächlichen Nutzen oder motivierende Herausforderung durch Aktivierung der Eigenmotivation zahlreicher kleinerer Öffentlichkeiten.

Die Botschaften (Themen), zum Beispiel der Kommission, sollten mehr Ergebnisorientierung im Nutzen für den Bürger zeigen. Das erfordert Transparenz und Timing im Kommunikationsbereich. Zur Planung von Projekten gehören in diesem Prozeß unbedingt Radiergummi und Bleistift, denn die Projekte müssen ständig der jeweiligen Situation angepasst werden. Der bloße Hinweis auf eine permanente globale Verwerfung genügt nicht mehr als Alibi. „Ändern sich die Fakten, ändere ich meine Meinung“ (Keynes).

Situationsanalysen sind gefordert, nicht ideologisch gefärbte Planungsstarrheit in jedem einzelnen Projekt für jede noch so kleine Teilöffentlichkeit.

Die Kommission muss lernen, ihr Füllhorn an Nicht-Informationen "top down" abzubauen und durch die Aufnahme der Daten und Meinungen der Betroffenen ("bottom up") zu ergänzen.

Der über Jahrzehnte so erfolgreiche funktionale Ansatz beim Werden Europas muss situationsgerecht neu umgesetzt werden. Personale Kontakte in Gesprächen und nicht nur durch europaweite oder nationale Umfragen sind gefragt.

Es geht um die Lösung der Frage: Wie sagen wir es dem Bürger und nehmen seine für ihn positiven Reizwörter anhand von Wünschen und Tatsachen in unsere Vorschläge auf? Eine Euro-Expert-Sprache sollte soweit wie möglich vermieden werden. An ihre Stelle sollten auf allen Ebenen mündlich und schriftlich bürgernahe Begriffe und Übersetzungs- und Dolmetscherleistungen treten.

Wenn es der Kommission in ihrer Kommunikation mit den Bürgern und ihren Interessen nicht gelingt, die „wahren Zukunftstreiber“ ihrer Brüsseler Arbeit in den alltäglichen und nachhaltigen Nutzen für die Bürgeröffentlichkeiten vor Ort zu übersetzen, dann wären kontraproduktive Pseudoskandale, Gerüchte, überflüssige Fehlprognosen, Demonstrationen und Widerstände programmiert.

Führung ist Kommunikation. Eine Ansammlung von unkoordinierten Maßnahmen im Boutiquestil von der Redenschreibe für die in Stadt und Land sattsam bekannten Monologisten bis hin zur Anschaffung von Telepromptern ist keine Reputationsstrategie für Europa. Das Verbreiten von aalglatten Leerformeln durch Top-Repräsentanten der Institutionen mittels der Phrasendreschmaschinen ihrer Sherpas ist zu wenig für die zukünftige Verankerung und Fortschreibung der europäischen Idee in ihren Völkern. Die Verwirklichung von Visionen muss von transparenten Handlungsprogrammen in einem strategischen Kommunikationsprozess begleitet werden. Zum Grundsätzlichen gilt, was der EU-Parlamentarier Elmar Brok (EVP) für sich und seine Kollegen im Parlament formulierte: „Wir werden … alle Änderungen ablehnen, die zu weniger Demokratie, Transparenz und Effizienz oder zu weniger Rechten für Europas Bürger führen.“

Wolfgang Reineke, Heidelberg

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